Von Defiziten – oder: Die Leistung, die niemand sieht

Notizbuch mit den Buchstaben "LRS", auf dem Stifte und ein Kleiner Stoffhund liegen. Darüber stehen Kaffee, Wasser und ein Teller mit Obst.

Stell dir vor, du liebst Bücher und Geschichten. Und stell dir vor, du hättest Kinder. Die ideale Voraussetzung für Vorlesestunden, oder nicht?

Jetzt stell dir vor, du hast dich schon immer schwer mit Lesen getan, liebst es aber so sehr, dass es dir die Mühe wert ist. Beim Vorlesen stolperst du über Worte und liest etwas anderes als dort steht. Aber dein Kind stört das nicht, weil auch dein Kind die Quality-Vorlesezeit mit dir liebt und es nicht anders kennt. Deswegen liest du auch noch vor, nachdem es in die Schule gekommen ist und selbst lesen lernt.

Irgendwann fängt es an, mitzulesen und dich zu korrigieren. Nicht, weil es dich ärgern will, sondern weil es sich freut, dass es das jetzt auch kann.
Bei den Deutschhausaufgaben musst du mit deinem Kind plötzlich Wortarten und Zeitformen lernen, kommst aber bei Fragen nach der korrekten Rechtschreibung immer ins Grübeln.
Dein Kind nimmt hin, dass du dir unsicher bist und findet – dank Internet und Wörterbüchern – andere Wege, seine Fragen zu beantworten.

Und dann kommt der Punkt, an dem du selbst fasziniert davon bist, wie selbstverständlich dein Kind die Rechtschreibung beherrscht und wie wenig stockend es vorliest – und du begreifst die Ausmaße deines Defizits.

Unterschiede

Jeder Mensch lebt in seiner kleinen Blase und geht bei vielen Dingen zunächst von sich selbst aus. Menschen, die ihre Zunge rollen können, glauben, das könnten alle und Menschen, ohne Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, glauben, alle Menschen fiele das genauso leicht, wie ihnen und andere müssten nur mehr üben.
Das diese Perspektive eine falsche Herangehensweise ist, brauche ich wohl niemandem erklären, oder? 
Falsch.
Denn da ist es wieder, dieses Denken. Dieses Mal in Bezug darauf, dass alle Menschen, die auf diesen Artikel stoßen, den gleichen Wissensstand hätten, wie ich.

Also fange ich mal ganz klein an: Menschen sind verschieden. Während der eine Mensch Klavierspielen liebt, liebt der andere Fußballspielen. Das eine schließt das andere nicht aus, aber es ist wahrscheinlich, dass nicht jeder Mensch, der gerne Fußball spielt, auch gerne Klavier spielt und umgekehrt. Nicht jeder Mensch, der gerne Klavier spielt, spielt auch gerne Fußball.

Fehlt jemandem, der gerne Klavier spielt, ein Finger, werden sich andere Menschen allerdings wundern. Ein fehlender Finger sollte das Klavierspielen immerhin erschweren und weil das so offensichtlich ist, ist es sogar noch bewundernswerter, dass diese Mensch trotzdem Klavierspielen kann.

Der fehlende Finger ist ein sichtbarer Defizit. Aber es gibt auch unsichtbare. Dazu zählen zum Beispiel Legasthenie und Lese-Rechtschreib-Schwiegkeiten.

Über die Probleme, die bei mir mit den Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten auftreten, habe ich in meine Artikel Meine LRS und ich bereits etwas beleuchtet. Das werde ich hier also nicht noch einmal ausweiten. Was ich aber betonen muss, ist: ich weiß seit meiner Schulzeit, dass ich Lese-Rechtschreib-Schwiegkeiten habe und ja, da steht auch ganz klar eine Diagnose dahinter.

Ich bin also in dem Wissen aufgewachsen, dass ich Lesen und Schreiben nicht so gut kann, wie andere. Das zeigte sich unter Anderem in meinen Noten, denn mein Defizit war nicht so groß, dass darauf Rücksicht genommenen wurde. Bis vor einigen Jahren war ich steht’s bemüht, meinen Defizit aufzuholen. Denn das war es, was mir Zeit meines Lebens suggeriert wurde: du musst nur mehr üben, dann kannst du das ausgleichen und so gut sein, wie alle anderen auch.

Was meine LRS aber wirklich bedeuten wurde mir erst bewusst, als mein Kind mich mit dem Übergang in die weiterführende Schule plötzlich rasend schnell überflügelte.

Bewusstsein schaffen

Grundsätzlich ist Üben nichts falsches. Übung hilft tatsächlich ein wenig, den Defizit zu kompensieren. Sie hat mir über viele Jahre geholfen, meinen Defizit zu kaschieren, weil mir selbst erst bewusst werden musste, dass ich meine Grenzen erreicht habe. Ich dachte tatsächlich noch sehr lange, ich müsse nur noch mehr üben, um mithalten zu können.

Es war eine Diskussion über das Üben, die mir die Augen öffnete und durch die ich begriff, dass ich schon lange keinen Fortschritt mehr machte, so viel ich auch schrieb oder las. Einer Frau Mitte 30, die seit dem Teenageralter die größten Teil ihrer Freizeit gelesen und geschrieben hatte, vorzuwerfen, sie müsse einfach noch mehr Üben, um mithalten zu können, war lächerlich.

Wie mühsam der Lese- und Schreibprozess für mich ist, hat mir allerdings am Ende mein Kind verdeutlicht.
Und weil ich das begriffen habe, behandle ich meinen Defizit nicht mehr als etwas, dass ich verheimlichen muss. Im Gegenteil: ich fange an, stolz auf mich zu sein. Denn ja, ich bin langsamer als andere, ich brauche mehr Konzentration und mehr Zeit, aber meine LRS bedeutet auch, ich stecke viel mehr Mühe in meine Texte, als viele andere.
Und ich schreibe und lese, weil ich Spaß daran habe. Ich liebe Worte und ich liebe, was sie bewirken können.

Und darum geht es mir mit diesem Artikel:
Wenn ihr etwas habt, das als Defizit gesehen wird und das ihr selbst als solchen begreift; etwas, dass euch viel mehr Energie und Mühe abverlangt als jedem Menschen ohne diesen Defizit, seid stolz auf euch! Und wenn ihr es tut, weil ihr es wollt und Spaß daran habt, dann wachst daran und lasst es euch nicht aus- oder schlechtreden.

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