Eine Creepy Pasta: Wie alles begann

Triggerwarnung: In den Textabschnitten wird über zwischenmenschliche Beziehungen, Trennung, emotionale Belastung, sowie über spirituelle Themen wie Rituale, Geisterglaube und unheimliche Erfahrungen gesprochen. Es gibt auch Szenen mit leichter Spannung oder Unbehagen.

Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte, liegt mittlerweile einige Jahre zurück. Ich war noch jung und mit etwas konfrontiert, dass ich damals nicht verstand. Oder nicht verstehen wollte. Ich war gerade umgezogen. Still war es in der Wohnung. Eine Tasse Tee in den Händen stand ich in der Küche und beobachtete, wie der Regen auf das Nachbardach trommelte, sich sammelte und aus der überfüllten Regenrinne auf den Gehweg prasselte.
Meine neue Wohnung lag direkt unter dem Dach. Sie war klein, eine Stunde Fahrt von jeder größeren Stadt entfernt, aber erschwinglich für jemanden wie mich. Die Trennung von meiner letzten und bisher ersten ernsthaften Beziehung war mir nicht leicht gefallen. Sie hatte mein Leben zerrüttet. Ich hatte in Vorlesungen gefehlt, meine Noten waren in den Keller gerutscht, und ich hatte nicht alle Pflichtkurse bestanden. Ständig gab es neues Drama, neue Dinge, um die ich mich hatte kümmern müssen und alles hatte sich nur noch um diesen einen Menschen gedreht, dem ich hatte gerecht werden müssen. Als Konsequenz meiner emotionalen Freiheit stand ich jetzt auch finanziell allein da.
Also hatte ich entschieden, einen kompletten Neuanfang zu wagen. Ich hatte mein Studium abgebrochen und mich an einer neuen Universität am anderen Ende des Landes eingeschrieben. Das Semester startete erst in drei Monaten, und ich wusste nicht mal, ob ich angenommen worden war. Doch hier stand ich jetzt, mit dem größtmöglichen Abstand zu Alex und alleine. Alle Menschen, mit denen ich befreundet gewesen war, hatten während der drei Jahre Beziehung den Kontakt zu mir abgebrochen. Ich habe nie Zeit, sei unzuverlässig geworden und alles drehe sich nur noch um Alex. Manche hatten sich einfach nicht mehr bei mir gemeldet, nachdem sie ihren Abschluss in der Tasche hatten. Für Freundschaften hatte ich noch weniger Zeit, als für mein Studium.
Nach der Trennung hatte mich meine Mutter aufgenommen. Aber ihr neuer Mann hasste mich. Wenn wir stritten, war sie auf seiner Seite.
Ich nippte an meinem Tee. Er war nur noch lauwarm. Vor zwei Tagen war ich noch bei meinem Vater zum Weihnachtsessen gewesen. Er hatte mir am ersten Weihnachtsfeiertag eine seiner immer neuen Auflaufkreationen vorgesetzt. Besser als die Weihnachtspute meine Mutter. Sie ignorierte, dass ich mittlerweile auf Fleisch verzichtete, weil ihr Mann doch welches essen wollte.
Am selben Abend hatte ich mich in meinen kleinen Wagen gesetzt und war mit meinen Kisten und einem Bett auf dem Dach hierhergefahren, obwohl die Schlüsselübergabe erst am zweiten Januar stattfinden sollte. Doch die Familie, die diese Dachgeschosswohnung vermietete, wohnte in der Wohnung darunter. Sie hatte Verständnis für meine Situation. Jetzt stand ich hier, inmitten meiner Umzugskisten, und verbrachte den Rest des Jahres alleine.
Seufzend wandte ich mich vom Regen ab und setzte mich auf das einzige bisher vorhandene Möbelstück in der Wohnung: mein Bett. Es war das Weihnachtsgeschenk meines Vaters. Darauf lag das Buch, das meine Mutter mir geschenkt hatte. „Rauhnächte – Rituale und Weissagungen“ hieß es. „Es wurde mir empfohlen“, hatte sie dazu gesagt, „weil du doch kein Fleisch mehr isst und so.“
Ich nahm das Buch und schlug irgendeine Seite auf. Es ging um Meditation und Hellseherei. Ich überflog den Abschnitt und schüttelte den Kopf. Um zu wissen, was im nächsten Jahr auf mich zukam, solle ich in den sogenannten Raunächten auf alles achten und meine Träume aufschreiben. Ich blätterte weiter und verdrehte die Augen, als es um Verbote ging, um die Geister der Anderswelt nicht zu verärgern. In dem Buch gab es alles: Rituale für Hellseherei, Opfergaben an die Natur und das Verbot, Wäsche zu waschen. Ich legte das Buch beiseite, zog meinen Laptop aus der Tasche und lenkte mich mit meiner Lieblingsserie ab.

Als ich am nächsten Tag den kleinen Supermarkt an der Hauptstraße besuchte, sah ich mich aufmerksam um. Ich hatte nie Kontakt mit meinen Nachbarn geknüpft, vor allem nicht in der Beziehung mit Alex, aber ich kannte meine Umgebung gerne. Die meisten Häuser hier waren kleine, zweistöckige Fachwerkhäuser. Manche hatten ebenfalls einen weiteren Treppenaufgang zu einer Wohnung unter dem Dach. An den Haustüren standen hübsch zurechtgemachte Körbe mit Äpfeln und Nüssen, und an den Geländern hingen kleine Figuren aus Zweigen und Stroh. Zwischen den Häusern sah ich nur wenige Gärten, dafür aber ganze brachliegende Grundstücke mit wuchernden Bäumen und Gestrüpp dazwischen.
Bis ich den Supermarkt ein paar Straßen weiter erreichte, wurde mir klar, dass ausnahmslos jedes Haus auf die selbe Art geschmückt war. Ich sah keine Weihnachtsmänner, keine Plastikschneemänner oder Lichterketten, die es sonst zuhauf gab. Die Dekoration war schlicht und nicht das, was heutzutage unter „weihnachtlich“ verstanden wurde. Auch vor dem Supermarkt standen kleine Körbe aus Zweigen. Ich nahm einen in die Hand und entdeckte ein Preisschild.
„Sie sind neu hier, richtig?“
Ich zuckte zusammen und sah auf. Ein freundliches Gesicht mit üppigem dunklem Bart und braunen Augen blickte mir entgegen. „Hi, ich bin Kaya, ich habe heute die Nachmittagsschicht im Supermarkt.“
„Maris“, entgegnete ich zögernd und schüttelte die dargebotene Hand.
„Du hast die Wohnung bei den Halzers gemietet, richtig? Ich darf doch du sagen, oder?“
Kaya musste meine Verwirrung bemerkt haben und lachte: „Keine Sorge, ich stalke nicht. Hier wohnen gerade mal zweihundert Menschen und Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Als ich vor ein paar Jahren hierhergezogen bin, war das genauso. Die Leute hier reden viel. Besonders, wenn eine Wohnung so lange leer stand wie deine. War eine üble Geschichte. Aber das weißt du bestimmt.“
„Nein, weiß ich nicht“, entgegnete ich. Mir war bei der Wohnung nur wichtig gewesen, dass sie nicht zu weit von meiner neuen Uni entfernt, erschwinglich und sofort beziehbar war. Um Gerüchte hatte ich mich nicht gekümmert.
Kaya grinste schief. „Tut mir leid, ich überrumple dich gerade. Die Leute hier lieben Geistergeschichten.“
Ich verzog den Mund. „Ich glaube nicht an Geister und schlechte Omen oder so was.“
Kaya zuckte die Schultern. „Mit der Einstellung stehst du hier leider sehr alleine da.“
„Was meinst du damit?“
Doch ehe Kaya antworten konnte, rief jemand von drinnen: „Kaya? Kaya, ich will zahlen!“
Kurz sah Kaya zur offenen Ladentür und dann auf den Korb in meiner Hand. „Pass auf, ich gebe dir morgen ein Frühstück aus, wenn das Café öffnet. Dann erzähle ich dir ein bisschen was über die Leute hier, ok?“ Der Blick fiel auf das Körbchen, das ich noch in der Hand hatte. „Und der geht aufs Haus, wenn du heute hier etwas einkaufst.“ Kaya zwinkerte mir zu und verschwand nach drinnen.
Ich kaufte nichts ein.

Das Café Woe war die örtliche Bäckerei und Konditorei mit einem sehr überschaubaren Angebot. Ein kleiner Wintergarten neben der Ladentheke lud ein, hier auch einen Kaffee zu trinken. Kaya wartete bereits auf mich und hatte zwei kleine Frühstücksmenüs bestellt.
Wir unterhielten uns gut, und Kaya hielt sein Versprechen. Nach einer knappen Stunde schwirrte mir bereits der Kopf von all den Geschichten und Anekdoten, die Kaya zu erzählen hatte. Die Menschen in dieser Gegend beschäftigten sich viel mit Geistern. „Jetzt, in den Rauhnächten, sind wir hier besonders bemüht, die Geister zufriedenzustellen.“
„Und du? Glaubst du daran?“, hakte ich nach.
Kaya hob die Schultern. „Vielleicht. Bisher habe ich mich an die Regeln gehalten, und mir ist noch nichts passiert.“
„Du glaubst also, dass ein Waldgeist den Traktor von …“
„Henrdrik.“
„Von Hendrik gefahren hat“, nahm ich den Hinweis auf, „und damit den Schuppen von den …“
„Müllers.“
„Von den Müllers kaputtgefahren hat?“
„Keine Ahnung. Aber die Müller-Brüder wollten die beiden großen Eichen fällen, und danach waren die Motorsägen und auch die beiden Äxte Geschichte. Aber die Bäume stehen noch.“ Kaya zwinkerte.
Ich hingegen seufzte schwer. „Das war Zufall. Menschen sehen gerne Zusammenhänge, wo keine sind.“
„Wenn du meinst.“
Als sich unsere Blicke trafen, meinte ich in Kayas Augen einen ernsthaften Ausdruck zu erhaschen, der nicht zu dem leichten Grinsen unter dem Bart passen wollte.
„Ernsthaft“, sagte Kaya, „halte dich dran. Stelle zumindest die Schale mit den Nüssen vor deine Türschwelle.“
Wieder seufzte ich, entschied mich jedoch zu einem Lächeln. „Ich überlege es mir. Aber jetzt werde ich erstmal sehen, dass ich morgen früh eine Kaffeemaschine und einen Toaster in meine Küche stellen kann. Vielleicht kümmere ich mich danach um die Geister der Rauhnächte.“ Ich erhob mich und nahm meinen Rucksack. „Danke für das Frühstück.“
„Hey, wenn du willst, komm an Silvester bei mir vorbei. Ich habe ein paar Leute eingeladen. Wir wollen gemütlich essen, reden und Zinngießen.“
„Und das Feuerwerk anschauen?“
„Oh, hier gibt es kein Feuerwerk.“ Kaya nickte gespielt ernst.
„Lass mich raten: wegen der Geister?“
„Korrekt!“
Das war so absurd, dass ich lächeln musste. „Ok, vielleicht.“

Ich nahm die Einladung an. Nachdem ich die Tage bis Silvester einige der Leute aus dem Dorf flüchtig kennengelernt hatte, war ich zuversichtlich und wollte neue Kontakte knüpfen. Kayas Feier war keine richtige Party. Es war mehr ein Zusammensein unter Freunden. Wir waren zu viert, unterhielten uns gut und stellten fest, dass wir alle einen ähnlichen Filmgeschmack hatten.
Als ich an diesem ungewöhnlich ruhigen Silvester mit reichlich Sekt im Magen nach Hause ging, hatte ich mehreren Filmempfehlungen im Kopf und zwei gegossene Zinnklumpen in der Tasche. Eine Katze und ein undefinierbarer Blob, den jemand als geschmolzenen Käse hatte auslegen wollen. Doch die Gedanken an den Unsinn vertreiben nicht das Gefühl, dass ich beobachtet wurde.
Ich zog den Kragen meines Mantels weiter zu. Es war kalt, doch richtige Winter mit Schnee gab es selbst hier nicht mehr. Um mich herum tropfte der immer wieder einsetzende Regen von den Dächern, und die meisten Häuser waren dunkel. Ich hörte nicht einmal ein Auto oder Flugzeug aus der Ferne.
„Hier ist nichts“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, ging aber dennoch schneller. Als ich an einem der unbebauten Grundstücke vorbeikam, huschte etwas in meinen Weg. Ich zuckte zusammen und verdrehte gleich darauf die Augen. Eine grau-getigerte Hauskatze blieb unter der Laterne stehen und starrte mich an. „Kein Wunder, dass die Menschen hier an Geister glauben“, murmelte ich.
Die Katze neigte den Kopf, fast als wolle sie fragen: „Wirklich?“
Im nächsten Moment huschte sie in das Gestrüpp neben dem Weg. Ich seufzte und ging weiter. Ich hatte nur zu viel getrunken. Das war ein gewöhnliches Dorf mit gewöhnlichen Menschen und ganz gewöhnlichen Tieren.
Doch als ich an dem Gestrüpp vorbeikam, meinte ich ein Flüstern zu hören.: „Sie wird nicht bleiben.“
Ohne darüber nachzudenken, ob ich die Stimme wirklich gehört hatte oder ob sie nur in meinem Kopf gewesen war, zog ich den Kopf ein und eilte weiter. In meiner Wohnung angekommen, verschloss ich die Tür und schaltete Musik auf meinem Handy ein, um die Stimme nicht weiter ertragen zu müssen.
Nach diesem Silvesterabend gab es keine ruhige Nacht mehr für mich.

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