Herzensfresserin

Triggerwarnung: enthält Themen und Textpassagen, die sich mit Horror, Gewalt und gruseligen Inhalten befassen.

„Erfüllt von Trauer und Gram über die Abweisung, ging sie trotz aller Warnungen in den dunklen Wald. Sie wollte die Geister um Hilfe bitten. Aber Taline kehrte nie wieder zurück. Alle im Dorf suchten nach ihr. Tage und Wochen vergingen und die Hoffnung, sie zu finden, schwand. Im Zenit des Sommers feierten sie schließlich ein Trauerfest. An diesem Abend erfüllten die Stimmen tausender Zikaden die Luft. Und Keto, der ihre Liebe abgelehnt hatte, hörte sie unter all den Stimmen singen.“

Die Erzählerin hielt inne und sah in die erwartungsvollen Gesichter der Kinder um sie herum. Frenji lehnte abseits des Lagerfeuers, an dem die Geschichtenerzählerin jeden Abend saß und Märchen erzählte, an einer Wand. Eigentlich hatte er nur seine Schwester hierher begleitet. Elinka wartete hinter der Schenke auf ihn. Aber die Legende der Herzensfresserin hatte ihn eingefangen.

„Aber der gute Keto gab die Hoffnung nicht auf, seine liebste Freundin doch noch wiederzufinden. Statt mit den anderen zu trauern, ging er auch an diesem Tag auf die Suche. Die Zikaden sangen nicht nur in den Feldern und Wiesen, und so folgte er ihren Stimmen in den Wald. Auf einer Lichtung fand er Taline. Inmitten der Ruinen wartete sie auf ihn. Doch der Wald hatte sie verändert.“

Ein Kind vor ihm hielt sich die Ohren zu und schmiegte das Gesicht an seine Mutter. Die Erzählerin senkte ihre Stimme.

„Talines Glieder waren mager, ihre einst strahlenden blauen Augen leer und starr, ihre Haut, einst so rein wie feinster Lehm, jetzt fleckig und grau. ‚Du hast mich gebrochen!‘, schrie sie Keto entgegen. ‚Du hast meine Liebe nicht gewollt!‘
Und Ketos Herz brach. ‚Ich wollte deine Freundschaft, nicht deine Liebe. Die hättest du jemand anderem geben können, der dich ebenso liebt!‘
Doch seine einstige Freundin hörte ihn nicht. Sie wiederholte die Worte und streckte ihre Hände nach ihm aus. Nebliger Dunst kroch über den Waldboden, die Zikaden verstummten. Und Keto floh vor dem Ungeheuer, zu dem Taline geworden war. Nie wieder kehrte er in den Wald zurück, denn seitdem haust dort, zwischen den Ruinen der Alten, die grausame Taline und nährt sich von den Herzen der Unglücklichen.“

Die anschließende Stille wurde von den Grillen untermalt. Frenji wandte sich ab, als die Kinder die Erzählerin mit Fragen bedrängten. All das hatte er schon gehört und früher selbst gefragt:
„Warum hat Taline die Abweisung nicht einfach akzeptiert?“
„Warum tötet sie Leute, die nichts damit zu tun haben?“
„Warum haben die Jäger Qyrias sie noch nicht vernichtet?“
Für all das gab es nur Spekulationen.

Frenjis Schwester saß bei den anderen Kindern und hatte ihn bereits vergessen. So ging Frenji. Sein Weg führte ihn allerdings nicht zur Schenke. Sein Bauch schmerzte, wenn er an Elinkas wunderbaren braunen Augen dachte, die eins zu eins der Farbe jeges Haut entsprachen. Einerseits wollte er mit je trinken und Karten spielen. Andererseits waren die Schmetterlinge, die im Frühling noch seinen Magen bevölkert hatten verschwunden. Seit der Sommer begonnen hatte, brummten die Heuschrecken nicht nur auf den Feldern, sondern auch schwer in seinem Bauch. Erst jetzt hatte er verstanden, warum in der Legende der Herzensfresserin von Zikaden die Rede war.
„Hey, Fren! Warte!“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er herum und sah in Elinkas grinsendes Gesicht. „Hast du unsere Verabredung vergessen?“
Frenji brachte erst einmal nur ein „äh“ heraus und schüttelte den Kopf.
„Alles in Ordnung?“ Jeges helle Stimme war besorgt, und je hob die Augenbrauen. „Du bist in der letzten Zeit so seltsam. Grüblerischer als sonst. Hast du immer noch Bauchschmerzen?“
Seine Wangen glühten, und Elinkas Lachen sagte ihm, dass je die Bauchschmerzen als Ausrede betrachtete. Er fuhr sich durch die Haare und sah zu den Wipfeln des Waldes, die sich weiter unten im Tal türmten. „Sag mal, glaubst du, die Geschichte ist wahr?“
„Welche?“ Elinka folgte seinem Blick. „Meinst du die von der Herzensfresserin?“
Frenji nickte.
Elinka verdrehte die Augen. „Nein, zumindest nicht so. Der Wald ist gefährlich, das wissen wir. Dort liegen Ruinen. Und in den Ruinen …“
„… schwelt unberechenbare Magie und hausen Untote, ich weiß“, beendete er den Satz und seufzte. „Trotzdem frage ich mich, ob es Taline wirklich gab.“
„Ach, ich denke nicht“, sagte Elinka schulterzuckend. „Es ist nur eine Geschichte mit einer Moral, um den Kindern etwas beizubringen. Und jetzt komm.“ Je stupste ihn mit der Schulter an. „Ich habe was vom Beerenwein abgreifen können. Den machen wir warm, das hilft deinem Bauch.“
„Bestimmt hast du recht“, sagte er. Doch die Zikaden behaupteten etwas anderes.


Sie ließen ihn nicht schlafen. Seit Stunden lag Frenji in seinem Bett und kam nicht zur Ruhe. Der Beerenwein hatte seinen Bauch beruhigt, aber das Zirpen der Zikaden in seinen Ohren hatte er lauter werden lassen.
Bedächtig stieg Frenji aus seinem Bett, schlüpfte in seine Hose und streifte ein Hemd über. Seine Schuhe noch in der Hand schlich er aus dem Zimmer. Seine Schwester lag noch in ihrem Bett, statt bei ihren Eltern, der Morgen war demnach noch einige Stunden entfernt.
Als Frenji das Haus verließ, wurde der Ruf der Zikaden lauter. Fast schmerzhaft hallte er in seinem Kopf wider. Und da war noch etwas. Ein Gedanke, der ihn nicht losließ, der ihn drängte, der Legende auf den Grund zu gehen.
Langsam ging Frenji erneut aus dem Dorf, horchte in sich hinein. Aber der Gedanke wandelte sich in eine Stimme aus vielen; als sprächen die Zikaden im Chor zu ihm. Sie versprachen, ihm sein Leiden zu nehmen. Er müsse ihnen nur folgen.
Unbeholfen ging Frenji die Straße bis zum Waldrand. Doch er folgte ihr nicht um das Tal herum. In den Wald hinein gab es nicht einmal einen Trampelpfad. Mühsam bahnte Frenji sich einen Weg durch Gestrüpp. Er verlor jedes Zeitgefühl, jedes Gespür für eine Richtung. Erst als sich schillernde Nebelschwaden vor seinen Füßen auf dem Waldboden wanden, blieb er stehen. Der Nebel, geboren aus unberechenbarer Magie, sickerte aus den Ruinen, so sagten es die Gelehrten. Vielleicht barg sie einen Zauber, der seine Qual beenden konnte.
Die Stimmen der Zikaden wurden deutlicher. Sie kamen nicht mehr aus einer unbestimmten Richtung, sie waren vor ihm. „Fühlst du meinen Schmerz?“, fragten sie. „Den Schmerz unerwiderte Liebe?“
Frenji schloss die Augen und presste seine Hände auf seinen Bauch. Ja, er spürte ihn. Er war da, seit Elinka ihm erzählt hatte, dass je für einen anderen schwärmte: Einen guten Bekannten aus dem Nachbardorf. Und Frenji akzeptierte es. Aber seine Eifersucht hatte die Schmetterlinge in Heuschrecken verwandelt.
„Fühlst du meinen Schmerz?“, fragten die Zikaden erneut.
„Ja“, antwortete er und öffnete die Augen.
Taline stand vor ihm. Lange Haare umrahmten in fransigen Strähnen ein eingefallenes Gesicht. Unzählige Grillen krabbelten über ihren knochigen Körper. Ihre lidlosen Augen starrten ihn an. Als sie lächelte, zog sich ihr Mund bis in die Wangen hinein und entblößte eine Reihe spitzer Zähne.
Frenji schrie.

Jemand hämmerte an die Tür und riss Elinka aus dem Schlaf. Benommen wälzte je sich aus dem Bett und griff nach der Decke, um sich darin einzuwickeln. Jeges Schädel war noch schwer vom Wein, und so gab Elinka nur ein halblautes „Ich komme…“ von sich.
Das Poltern hörte nicht auf.
„Jaaa!“, brummte je lauter und taumelte die wenigen Schritte durch die Hütte zur Tür, zog den Riegel zurück und die Tür auf. „Was…“ Doch jegliches weitere Wort blieb Elinka im Hals stecken.
Frenji stand vor jeg. Er war blass, seine Augen trüb, und etwas saß in seinem Haar. Heuschrecken.
In dem Moment, in dem Elinka klar wurde, dass je die Tür zuschlagen sollte, zuckte seine Hand nach vorne. Sie hörte es knacken. Der lähmende Schmerz kam erst danach. Mühsam senkte je den Blick. Seine Hand steckte in jeges Brustkorb. Elinka sah wieder auf, wollte etwas sagen, da zog er seine Hand zurück – und jeges Herz heraus aus Elinkas Brust.

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