Die Straßenbahn kam nicht. „Entfällt wegen fehlendem Personal“, flimmerte über das Laufband direkt an der Haltestelle. Bis auf ein Elternteil mit seinem Kind stand ich alleine an der Station. In der Ferne hallte die Sirene eines Polizeiautos durch die Straße, untermalt von dem nörgelnden Kind neben mir.
Ich schaute auf die Uhr. Seit die Regierung begonnen hatte, Menschen aus dem Land zu werfen, funktionierte fast nichts mehr. Zwei Wochen hatte es gedauert. Im Supermarkt fehlten plötzlich Waren, die nicht geliefert und nicht ausgepackt und eingeräumt wurden. Und wer nicht in der Lage war, den Selbstverbucher zu nutzen, konnte nicht mehr einkaufen. „Aber ich hab doch nicht gewusst, dass das auch die netten Leute aus dem Supermarkt sind“, hatte eine alte Dame geklagt, als ich ihr gestern half, den Einkauf zu verbuchen und zu bezahlen. Bar zahlen ging nicht mehr.
„Papa, ich will aber in die Kita!“, jammerte das Kind neben mir jetzt lauthals, „Ich will mit Sarah spielen!“
„Der Kita ist zu, Schatz“, murmelte der Mann, während er auf sein Handy starrte. Ich vermutete, dass er jemanden suchte, der auf sein Kind aufpasste. Kurz darauf nahm er das Kind auf den Arm. Ich sah ihm hinterher, als er an den Gleisen entlang Richtung Stadt ging und dabei einem achtlos stehengelassenen Auto auswich.
In dem Moment klingelte mein Handy. Mein Chef. „Sie müssen sofort kommen, die Server laufen nicht mehr!”
„Aber ich habe keine Ahnung von Servern“, entgegnete ich resignierend. “Was ist mit Achim?”
„Der ist auch weg!”, brüllte mein Chef verzweifelt ins Telefon, “Hätten Sie das gedacht? Er hatte seine Wurzeln in Österreich!”
Ich schwieg einen Augenblick und sah nochmal zur Anzeigetafel. “Ich kann das nicht machen. Mir fehlt die Fachkompetenz dazu. Ich bin Bürokauffrau, keine Informatikerin. Und die Straßenbahn fährt nicht. Ich brauche vielleicht eine Stunde, wenn ich mein Rad hole. Mit dem Auto komme ich nicht mehr durch.“
Ich meinte meinen Chef leise am anderen Ende der Leitung wimmern zu hören. Dann legte er auf.
Meine Kollegin im Büro, Sultan, hatte sich schon vor drei Monaten, gleich nach den Wahlen verabschiedet. Sie war zusammen mit ihrer Familie freiwillig gegangen. Wohin wusste ich nicht. Vor zwei Wochen waren Girard und Yoko nicht mehr zur Arbeit erschienen. Beide hatten sich mit Achim um die Technik gekümmert.
Ich sah mich um. Die Polizeisirene war verstummt. Irgendwo brüllten dafür Menschen wild durcheinander und Hunde bellten. Aber ich sah niemanden. Auf der Straße türmten sich Müllsäcke neben umgeworfenen Mülltonnen, das Auto stand halb auf der Straße. Die Fensterläden der meisten Wohnungen waren geschlossen.
Selbst die Menschen, die sich anfangs noch bemüht hatten, das Chaos in Zaum zu halten, die demonstriert und selbst gestreikt hatten, waren von den Straßen verschwunden. Auch von ihnen waren viele freiwillig gegangen.
Und jetzt? Jetzt fehlten so viele, dass die Arbeit nicht mehr zu stemmen war.
Mein Blick fiel wieder auf die Anzeigetafel. Vielleicht war das die Gelegenheit für mich, in einen wichtigeren Job zu wechseln. Büros und Verwaltung gab es überall. Vielleicht sollte ich meine eigene Bequemlichkeit aufgeben und meinen Freunden ins Ausland folgen.
Hinweis:
Der Text entstand nach dem Leak der Deportationspläne, die bei einem Treffen einiger Politiker*innen aus AfD und CDU und diversen anderen Machthabenden: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/
Die Vorstellung hat für mich dystopische Ausmaße. In dem Sinne: #wirsindmehr #niewiederistjetzt #gegenrechts

Eine sehr dystopische Vorstellung, welche du in dem Text entwirfst.
Ein Text zum Nachdenken.