Heimgesucht, Kapitel 17: Sanankas Hilfe

Cover: Heimgesucht. Ein Blogroman von Jule Reichert.

Triggerwarnung: enthält Inhalte, die verstörend oder belastend sein könnten, einschließlich Beschreibungen von Gewalt, Missbrauch und psychischem Stress.

Spielzimmer hatte er es genannt. Nur ein einziges Mal hatte sich Sananka hier hineingeschlichen und deswegen die schlimmste Tracht Prügel eingesteckt, die sie hier je bekommen hatte: Eine ganze Woche hatte es gedauert, bis sie ihren Arm wieder hatte bewegen können und noch länger, bis alle Blessuren verheilt waren. Oder fast alle. Ihre Nase sah man den einstigen Bruch noch immer an. Für sie war es damals ebenso das Schreckenszimmer geworden, wenn auch anders als für Pela. Doch sie, das Wieselgesicht, war niemals dafür vorgesehen, hierher geholt zu werden. Selbst eine gerade Nase hätte sie nie so hübsch werden lassen wie Pela.

Sananka erinnerte sich an die Abscheu, den Ekel und den Stolz Pelas. Unter den Kindern hatte sie ihr Privileg genossen. Dennoch war dieser Raum ihr Schrecken gewesen. Sananka hatte gesehen, was Pela geplagt hatte, hatte es gefühlt. Das Spielzimmer war ihr so vertraut; mit weiß gekalkten Wänden, Stuckverzierungen in Blau, Blumenmalereien und eleganten Möbeln war dieses Zimmer der Traum eines jeden armen Kindes. Sogar Spielzeug und Bücher lagen in Regalen und ein dicker Teppich vor dem Bett stellte eine große rote Blume dar. Auf einem niedrigen Tisch ruhte eine Schale mit süßem Konfekt. Ein Schminktisch mit Rouge, Lippenrot und Haarspangen rundete das Bild ab. Leider hatte es nie ein Kind gegeben, dessen Kinderzimmer es gewesen wäre. Nein, es hatte nur die Kinder gegeben, die sich wie Puppen herrichten mussten und an denen sich der Dreck dieser Stadt erfreut hatte. Jedes Mal war das Wispern um Pela lauter geworden und auch Sananka hörte es leise hinter ihrem eindringlichen Flüstern. Die Angst der Kinder hatte sich in den Wänden festgesetzt und Pela hatte sie gehört, jedes Mal, wenn sie hatte herkommen müssen – die gleiche Angst, die nun such Dennet Schafherr verspürte.

Diesen Widerling dazu zu zwingen, hier herunterzugehen, fiel Sananka so leicht. Ihre Stimme hatte dafür gesorgt, dass niemand sie kommen sah, ehe sie jeden Einzelnen von ihnen überwältigte. Die dicke Köchin und die Schafherrs waren bereits zu Bett gegangen. Auch drei der Aufseher hatte sie in den Kammern schlafend gefunden. Nur einer hatte versucht, sich zu wehren, und war nach einem kräftigen Schlag gegen die Kehle an der Treppe liegen geblieben.

Angesichts ihrer Dolche und mehrerer Stiche in empfindliche Körperregionen folgten sie alle ihren Anweisung. Nacheinander hatte sie alle gezwungen, still ins Schlafzimmer zu gehen und sie gefesselt und geknebelt. Das Jammern und Wehklagen drang nicht zu ihr durch. Sie spürte kein Mitleid mit denen, die für die wispernen Wände dieses Hauses verantwortlich waren. Sie fühlte nur den Rausch der Überlegenheit.

Während das Feuer im Nebenraum zu lodern begann, erlöste sie Dennet von dem Schicksal, mit den anderen ersticken zu müssen. Sie band ihm die Arme auf den Rücken und stopfte ihm seine eigene Unterwäsche in den Mund. Ihr Gesang schürte seine Angst. Sie machte ihn genauso gefügig, wie seine Drohungen und Schläge die Waisenkinder.

Sananka hatte ihn aus dem Schlafzimmer gezerrt. Weinen und Schluchzen begleiteten jeden seiner Schritte.

Noch hatte Sananka nicht ganz verstanden, was sie mit ihrer Magie alles anstellen konnte, welche Gefühle sie in den Menschen auslösen konnte. Aber der brennende Hass in ihr leitete ihre Stimme und ließ ihn fühlen, was er entzündet hatte: Angst umklammerte ihn so unbändig wie das dürre kleine Mädchen in Sanankas Innerem. Scham durchflutete jeden seiner Gedanken, wie einst Pelas.

Zitternd ging er die Nebentreppe in den Keller hinunter. Dort gab es einen Zugang in das Schreckenszimmer. Sananka kannte ihn nicht, doch Dennet war er vertraut. Den Kindern war der Keller verboten gewesen. Vorräte, Kleidung und Dinge, die schnell für eine weitere Waise gebraucht wurden, lagerten darin. Sananka wusste nur von der Luke im Garten, die sie damals zufällig entdeckt hatte.

Im Schein ihrer Lampe entriegelte Dennet ein Regal von der Wand und ließ es beiseite gleiten. Sananka roch den süßlichen Duft, der das Zimmer erfüllte – ein Kontrast zu dem stechenden Rauch, der das ganze Haus durchzog. Hinter sich schloss sie die Tür des Spielzimmers, stetig eine Melodie summend – seine Melodie. Er hatte sie gesungen, wann immer er Pela geholt hatte. Es war auch das Lied, das Sananka gesummt hatte, dann, wenn sie sich die Decke über den Kopf gezogen und ihr die Angst zugebrüllt hatte, sie solle sich so tief wie möglich verkriechen. Sie alle hatten sich verkrochen und sich gewünscht, er möge wieder Pela mitnehmen. Jetzt wusste Sananka, diese simple Tonfolge hatte sie beschützt und Pela vor Furcht erstarren lassen.

Sananka schüttelte den Gedanken an Pelas Erinnerungen ab. Wie Flöhe sprangen sie auf und ab und bissen in ihr Gedächtnis.

Einen Augenblick stockte ihr Gesang, verlor an Kraft, und Dennet wurde sich bewusst, wo er sich befand. Er drehte sich um und sah Sananka erstaunt an, bevor er begriff. Als sich seine Augen vor Wut zusammenzogen, hieb Sananka ihm direkt ins Gesicht. Er taumelte, stolperte über den Teppich und schlug sich den Kopf an dem niedrigen Tisch. Die Konfektschale schepperte.


Sananka lächelte, trat zu ihm und griff nach seinem Kragen. Er war zu schwer, als dass sie ihn allein auf die Beine ziehen konnte. Erneut summte sie. Unter Angst war er formbar, wie eine bewegliche Puppe. Sie zog ihn hoch, er stand auf. Sie dirigierte ihn zu einem Stuhl, er ging zitternd Schritt um Schritt voran. Als er auf dem Sitz saß, verschnürte sie seine Hand- und Fußgelenke fest mit den Armlehnen und Stuhlbeinen. Erst dann beendete sie den Gesang.

Wieder dauerte es einige Herzschläge, bis sich seine Trance gelegt hatte und er sich erinnerte. Dieses Mal trat keine Wut in seinen Blick. Voller Panik rüttelte er an den Stricken. Doch Sananka wusste, was sie tat. Sie war eine angehende Meuchlerin, jemanden zu fesseln war eine leichte Übung. Lächelnd zückte sie ihren Dolch. „Was? Hast du heute keine Lust, zu spielen? Oder bin ich dir schon zu alt, hmm?“, fragte sie leichthin und lachte. Der bittere Geschmack auf ihrer Zunge erfüllte ihr Gelächter. „Mit Pela hast du früher gerne gespielt.“

Sie stützte sich auf seine Knie und sah ihn scharf an. Dass diese kalten Augen echte Gefühle zeigen konnten, hatte sie nicht erwartet. Aber Angst gab es immer. Jeder hatte Angst. Auch ein solcher Sadist wie er. „Ich weiß, was du mit Pela gemacht hast.“ Nun hob sie die Klinge direkt vor seine Augen. „Ihre Seele hatte unzählige kleine, schmerzende Schnitte, die sie ganz langsam umgebracht haben. Wollen wir austesten, wie lange es braucht, bis dein Körper keine Schnitte mehr verkraftet?“

Sein Wimmern drang tief in sie ein. Es versuchte, die Flammen zu durchbrechen, die ihr Herz ummantelten. Doch der Hass loderte nur noch heißer und verbrannte es zu Asche. Nein, er hatte nie Mitleid gehabt. Er hatte Pela nie gefragt, ob ihr all das gefiel. Er hatte sie nie gefragt, ob sie verkauft werden wollte. Im Gegenteil: Er hatte sich an ihrem Leid geweidet.

Mit dem Gedanken setzte sie die Dolchspitze an seine Wange.

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