Erinnerungen (Eske)

Ihre Augen waren müde, das fehlende Tageslicht machte es Eske nicht einfacher, sich auf Pinselstriche und die richtige Farbmischung zu konzentrieren. Die Tür zum Wintergarten knarrte, doch Eske sah kümmerte sich nicht drum. Sie kniff die Augen zusammen, setzte den Pinsel präzise an und vollendete das Funkeln in den Augen des Portraits. Schritte klangen hinter ihr und Jose seufzte. Sie wusste, es war Jose. Niemand anderes würde um diese Zeit in ihrem Atelier auftauchen.
„Kanu’um?“, stellte er fest, als er das Bild über ihre Schulter hinweg betrachtete. Eske antwortete nicht.
„Editha sagte mir, dieser Inspektor Leyston sei gestern Nachmittag hier gewesen“, fuhr Jose fort. „Danach seist du in deinem Atelier verschwunden. Du hast seit dem weder mit uns zusammen gegessen noch dich sonst im Haus blicken lassen.“ Er machte eine Pause. „Hast du seit dem überhaupt etwas zu dir genommen?“
Er musste das Tablett entdeckt haben, das Klara ihr vor ein paar Stunden gebracht hatte; Reste des Abendessens und alles unangetastet. „Mir geht es gut, Jose.“ Sie tauchte den Pinsel in die Farbe und verfeinerte ein Fältchen unter dem linken Auge.
„Oh, das sehe ich.“ Seine stimme klang beinahe belustigt. „Eske, wir machen uns Sorgen um dich.“
Eske seufzte, ließ den Pinsel sinken und drehte sich zu Jose um. „Mir geht es gut, Jose, wirklich. Ich habe auch etwas gegessen und getrunken. Klara bringt mir den ganzen Tag über fast jede Stunden frischen Tee als Vorwand, um zu sehen, ob ich noch auf den Beinen stehe.“ Bei den letzten Worten musste sie sogar lächeln.
Jose erwiderte das Lächelte. „Ja, das sieht ihr ähnlich.“ Doch dann schüttelte er den Kopf und deutete großspurig auf das Gemälde. „Aber was hat das zu bedeuten?“
Eske atmete tief durch, ehe sie antwortete. Ja, was sollte das? „Es ist nur, ich werde diese Bilder anders nicht los. Sie schwirren in meinem Kopf herum, bis ich sie auf Leinwand banne.“
„Und diese Bilder kommen …“
„Mit den Erinnerungen“, beendete sie einen Satz und schüttelte den Kopf. Es war schwer zu erklären, jemandem vernünftig zu verdeutlichen, warum sie das tat und sich keine Pause gönnen wollte. „Dieser Inspektor Leysten bohrt nach, immer und immer wieder. Wenn ich nicht an jeder Ecke eine lebende Leiche sehen möchte, muss ich diese Bilder loswerden. Besser ich schlafe ein oder zwei Nächte gar nicht, als jede Nacht schlecht.“
Nun erwiderte Jose ihren Blick ernst. Er wusste, sie spielte auf seine schlaflosen Nächte an. Auch sein Gemüht, sein Verstand rang mit den Erlebnissen. Doch er wurde auf andere Art und Weise damit fertig, er hatte Editha. Schließlich hob er ergeben beide Hände und trat den Rücktritt an. „Dann ist es wohl besser, ich lasse dich in deinen Erinnerungen schwelgen und … sage Editha, es sei alles in Ordnung.“
Eske lächelte dankbar, als Jose sich zurückzog und betrachtete das Portrait. Es waren keine schönen Erinnerungen, doch sie konnte sie nicht einfach auslöschen. Sie musste damit umgehen.

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