10-Minuten-Abstecher: Selbstportrait (Eske)

Eske nahm den Pinsel zur Hand, ließ ihn gewohnheitsgemäß über die Wasseroberfläche der Schale neben den Farbtöpfchen gleiten und sah das Bild an. Dann zögerte sie. Die Borsten ihres Pinsel berührten die Leinwand nur beinahe, das Wasser perlte herab, floss am Pinselgriff entlang auf ihre Finger. Es nahm ein wenig Farbe von ihren Fingerspitzen mit, als es endgültig zu Boden tropfte.
Die Frau auf diesem Bild starrte ihr entgegen, mit einem dunklen Auge und einer leeren Augenhöhle. Eske ließ den Pinsel sinken. Zwei Nächte und einen Tag hatte sie fast ununterbrochen an diesem Bild gearbeitet. Dann, als es fertig war, hatte sie schlafen müssen und wollte nun die letzten Korrekturen wahrnehmen – doch sie konnte nicht. Dieses Bild hatte ihr auf der Seele gebrannt, es war ihr ein Bedürfnis gewesen, es zu malen; das Portrait einer Frau, die ihr selbst so ähnlich sah, doch von der nur eine Hälfte Mensch war. Die andere Hälfte des Gesichts war fauliges Fleisch und blanke Knochen. Nur um den Hals wand sich ein einheitlicher Ring aus bläulichem Licht. Die Frau auf dem Bild war Eske und auch wieder nicht.
Eske legte den Pinsel wieder beiseite und fuhr sich über die Augen. Sie war noch immer müde. Zwölf Stunden Schlaf und sie war noch immer erschöpft. Und dieses Bild …
Noch einmal begegnete sie dem Blick des Portraits. Dann nahm sie ein schweres Tuch und verdeckte es. Später, sie würde es später fertig machen.

Hinterlasse einen Kommentar