Sie kamen nur langsam voran. Die Morgensonne durchdrang den seichten Nebel, der über dem Wald lag und tauchte alles in ein warmes Licht. Fast hätte Eske den Wald als friedlich bezeichnen können, doch unten, zwischen den Blättern und Zweigen über den Boden, konnte sie noch immer dieses blaue Schimmern erkennen. Es war noch nicht vorbei, die Leichname lauerten hier irgendwo. Trotzdem entschied sie, den Trampelpfad zurück zur Straße zu nehmen. Eske kannte keinen anderen Weg aus dem Wald hinaus, keinen, der sie sicher zurück zum Anwesen bringen würde – oder zu dem, was davon noch übrig war.
Weder sie noch Jose sagten ein Wort, während sie sich voran schleppten. Tapfer versuchte Jose sich aufrecht zu halten, sich nicht so schwer auf sie zu stützten, doch mit jedem Schritt verlagerte er sein Gewicht mehr und mehr auf Eskes Schultern.
Eine ganze Weile passierte nichts. Die Vögel über ihnen zwitscherten unbeeindruckt, bei jedem Knacken und Rascheln zuckte Eske zusammen und versuchte die Richtung auszumachen. Die Härchen in ihrem Nacken standen ihr zu Berge und sie spürte überdies deutlich den Fokus zwischen ihren angespannten Muskeln. Dann entdeckte sie den Zugang zur Straße. „Wir sind gleich da“, flüsterte sie.
Jose hob den Kopf und sah nach vorne. „Am Anwesen?“
„Nein, aus dem …“ In dem Moment brach ein Ast hinter ihnen, es gurgelte und das schrille Kreischen eines Leichnams durchdrang den Wald. Über ihre Schulter hinweg konnte sie eine Gestalt ausmachen; blutüberströmt, Kleidung wie Eingeweide hingen in Fetzen und das blaue Licht funkelte tief in den toten Augen. „Der Baron!“ Kaum hatte sie das ausgesprochen, eilten sie los. Jose humpelte und hüpfte um ihr nicht zur Last zu fallen und nach wenigen Metern erreichten sie die Straße. Der Baron kreischte erneut hinter ihnen; nahe, sehr nahe. Eske wagte nicht, sich umzusehen. Ohne Vorwarnung warf sie sich mitsamt Jose zu Boden. Kurz darauf schoss der Leichnam an ihnen vorbei und kam vor ihnen zum Stehen. „Bleib liegen“, sagte Eske, griff nach dem nächsten Ast, den sie erreichen konnte, und sprang auf. Der Baron drehte sich hastig um, sein Blick schweifte unruhig umher, bis er Eske erneut fixierte. Eske hob den Ast und wartete auf den Moment, in dem der Baron sprang. Mit aller Wucht schlug sie den Ast gegen den Kopf des Barons, hörte Knochen krachen. Der Leichnam fiel neben ihr in eine Hecke aus weißen Blumen. Er zuckte, Eske holte aus, um noch einmal zuzuschlagen, doch sie hielt inne. Das blaue Licht zwischen den Pflanzen, das Glühen in den Augen des Barons wurde plötzlich grünlich und wandelte sich zu einem schillernden Gelb; dann erlosch es. Der Baron lag still da. War es vorbei?
„Eske, sind das Menschen oder Leichen?“, keuchte Jose. Er war nicht wieder auf die Beine gekommen, saß aber auf einen Arm gestützt. Allarmiert folgte sie seinem Blick die Straße hinauf. Der umgestürzte Baum blockierte die Straße nicht mehr, doch die Kutsche stand noch dort. Und daneben Menschen, lebende Menschen! Drei in der Uniform der Behörde für die Kontrolle unlauterer Magie, die anderen beiden trugen Mäntel, die sie als Magier auswiesen. „Die Magie-Kontrollbehörde.“ Eske schloss die Augen und ließ den Ast einfach fallen. Sie hörte, dass jemand auf sie zu lief und sie rief. Sie atmete tief durch und sah dem Mann und der Frau entgegen. Sie stellten Fragen über Fragen, einer nach der anderen; wer sie seien, wo sie herkamen, ob es ihnen gut ginge, ob sie noch mehr Leichname gesehen hatten. Doch alles, was Eske sagte war: „Er ist verletzt. Eine der Leichen hat ihn gekratzt.“
Die Magierin fackelte nicht lange und nahm sich Jose an. Der Bewaffnete, der nun noch bei Eske stand, stellte weiterhin Fragen. Eske beantwortete sie ohne nachzudenken, ließ den Blick schweifen, bis sie bei der Kutsche ein bekanntes Gesicht entdeckt. „Meister zu Lauenkamp!“ Das war der Moment, in dem sie endlich begriff, dass sie in Sicherheit sein mussten. Sie hörte nicht mehr zu, antwortete nicht mehr, sondern eilte zu dem alten Künstler. Ärgerlich folgte ihr der Bewaffnete. „Meister zu Lauenkamp, seid Ihr in Ordnung?“ Auch er sah mitgenommen aus. Ein Ärmel seiner Jacke war zerrissen und in seinen Haaren hingen Blätter und Kletten. Doch er war in weit besserem Zustand, als Eske befürchtet hatte.
„Fräulein Lammfeld“, begrüßte er sie. „Wie wunderbar, Ihr habt es geschafft!“ Seine Augen leuchteten vor Freude – oder waren es Tränen?
„Und ihr ebenfalls.“ Das erste Mal seit stunden – oder Tagen – fühlte sie sich unbeschwert, als könne sie dem Chaos einfach davonfliegen. Eske lachte. „Wir haben Euch gesucht. Ich hatte schon befürchtet, auch Euch nur noch als wandelnde Leiche vorzufinden.“
„Gesucht habt Ihr mich?“ Schuldbewusst drückte Meister zu Lauenkamp ihre Hände. „Das tut mir Leid. Als wir alle von den Leichen flüchteten, stürzte ich. Das verschaffte mir den klaren Gedanken, dass ich in die falsche Richtung lief. Auf dem Weg in die Stadt stieß ich auf die Magiefinder.“ Er nickte in Richtung des Bewaffneten. Dieser nickte und meinte: „Dank Meister zu Lauenkamp wussten wir, was auf uns zukam und konnten entsprechende Hilfe anfordern.“
Eske sah zu Jose und der Magierin hin. Ja, es war wirklich vorbei.
