Zusammen rannten sie davon, Jose zog sie mit sich den schmalen Weg in den Wald hinein; ein Trampelpfad. Wurzeln ragten aus dem weichen Boden heraus und als Eske in eine Kuhle trat, wäre sie fast gestürzt. Die Leichen waren noch immer hinter ihnen, doch sie wurden durch das Gestrüpp und die Äste weit mehr behindert, als Jose und Eske.
„Da!“, schrie Jose vor ihr. Zwischen den Bäumen tat sich ein dunkler Schatten auf, der sich schnell als eine Hütte entpuppte. Jose war zuerst da und rüttelte an der Tür. Eske hob ihr Schwert und sah den Leichen entgegen. Eine der beiden Frauen war ihnen dicht auf den Fersen und setzte zum Sprung an. Eske überlegte nicht lange und warf sich zur Seite. Ihre Schulter prallte hart an die Wand der Hütte. Im selben Moment hatte Jose die Tür geöffnet und sie schlüpften hinein, schlug die Tür hinter ihnen zu. Der Leichnam kreischten schrill, als er sich von außen dagegen warf. Jose und Eske hielten dagegen. Mit einer unbändigen Kraft stieß die Frau gegen die Tür, versuchte ihre Klauen durch einen Spalt zu schieben.
Eske schlug auf die knöchernen Finger ein, die Klinge ihres Schwertes durchtrennte Sehnen und zerschlug einen Fingerknochen. Dann war die Tür zu und Eske verkeilte das Schwert zwischen dem Riegel und der Wand. Ein weiteres Mal warf sich der Leichnam gegen die Tür, doch die Improvisation hielt.
Atemlos sah Eske sich um und stürzte gleichzeitig mit Jose zu dem einzigen Fenster. Der Fensterladen war geschlossen, doch auch hier hörte Eske es bereits auf der anderen Seite kratzen. „Gib mir den Dolch“, forderte sie Jose auf und hieb die Spitzen der Dolchklinge in das Holz unter den Fensterläden, genau in die Mitte. Der Dolch würde die Läden blockieren, wenn die Leichname versuchten sie zu öffnen.
Neben ihr atmete Jose hörbar aus. Und erst jetzt bemerkte Eske, wie dunkel es in der Hütte war. Draußen hatten sie ihre Gegner wenigstens gesehen. Sollten sie es schaffen, einzudringen, würden sie gegen Schatten mit glühenden Augen kämpfen müssen.
„Jetzt haben wir keine Waffen mehr“, merkte Jose an, als habe er ihre Gedanken gelesen. Untermalt wurde diese Aussage von einem weiteren Donnern an der Tür.
Zwar gewöhnten sich Eskes Augen allmählich an das schummerige Licht in der Hütte, doch was sie sah stimmte sie keineswegs erfreulich. Hier gab es nichts, das ihnen gegen die lebenden Toten nützen könnte. An einer Wand stand eine Liege, auf der feinsäuberlich einige gefaltete Decken lagen. Daneben standen zwei Eimer ineinander gestapelt. Auf einem Regal neben der Tür lag lediglich Staub und in einer Kiste darunter fand Eske nur ein paar verschrumpelte Äpfel. Nicht einmal eine Feuerstelle gab es. Diese Hütte war bestenfalls dazu gedacht, Wanderern ein Dach über dem Kopf zu bieten. Aber es war mit Sicherheit nicht die Jagdhütte, zu der sie hatten laufen wollen.
Mutlos ließ Eske sich an der Wand einfach auf den Boden sacken und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. Sie hatte Meister zu Lauenkamp helfen wollen, stattdessen hatten sie sich in eine ausweglose Situation gebracht.
„Wir können die Kiste auseinandernehmen.“ Jose hatte die Äpfel einfach auf den Boden fallen lassen und stellte die Kiste auf die schmale Seite. Dann setzte er seinen Fuß hinein und versuchte, die Bretter abzureißen. Es knackte, doch Eske konnte nicht einordnen, ob es das Geräusch der Kiste war oder der Leichen draußen. Letztlich stützte sie den Kopf in beide Hände. Knacken, kratzen, kreischen und Joses Versuche, die Kiste auseinanderzunehmen; all das floss durch ihre Ohren und blähte sich dort soweit auf, dass es ihren Schädel zu sprengen drohte. Wie in aller Welt war sie nur in diese Situation geraten?!
„Eske?“ Joses Hand auf ihrer Schulter riss sie aus der drohenden Verzweiflung. „Dort oben ist eine Luke.“ Sie blinzelte und folgte seinem Fingerzeig. Ja, er hatte Recht. „Wir haben keine Leiter, aber eine Kiste. Wenn dort oben ein Zwischenboden ist, können wir uns dort vielleicht verstecken.“
Eske schluckte hart. Selbst, wenn sie gerade am Ende war, sie war noch lange nicht bereit aufzugeben. Gemeinsam öffneten sie die Luke, begleitet von dem ewigen Rempeln an der Tür und mittlerweile auch am Fenster. Holz splitterte, als Jose Eske hinauf half und sie ihm die Hand reichte, um ihn hinaufzuziehen. „Beeil dich!“ Sie sah Jose die Angst ins Gesicht geschrieben, doch so viel Gewicht auf einmal hatte sie noch nie an ihren Arm gehangen. Sie zog, Jose sprang und die Kiste kippte zur Seite. Im selben Moment sprang einer der Fensterläden auf und ein erfreutes Lechzen erklang. Jose zog sich hoch, bis zu seinem Bauch und trat um sich, als es unter ihm polterte. Krallen bohrten sich in sein Bein, in seinen Stiefel. Jose trat auf die Frau ein, Eske schlug ebenfalls zu. Nach wenigen Augenblicken verlor die lebende Leiche den Halt, stürzte mitsamt Joses Stiefel hinunter und Eske schlug die Luke zu. Wieder knallte das Gewicht des Leichnams von unten an die Luke, doch er konnte dafür lange nicht so viel Kraft aufbringen, wie an der Tür. Rücken an Rücken setzten sich Eske und Jose auf die Luke. Unter ihnen wüteten die Leichen, nur eine Handbreit über ihnen war die Dachschräge und nur ein Haufen Stroh trennte sie noch von dem unheilverkündenden Licht des Waldes. Zwei Fenster, dicht über dem Boden, dort, wo sich die Dachschrägen über ihnen trafen, ließen etwas Licht herein.
„Glaubst du, sie sind schlau genug, über das Dach zu klettern?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Wispern und übertönte kaum das Rumoren und wütende Kreischen unter ihnen.
„Ich weiß es nicht“, war alles, was Eske sagen konnte. Dann schwiegen sie beide. Lange Zeit blieben die Geräusche unter ihnen, lange Zeit versuchte Eske an etwas anderes zu denken, versuchte sich vorzustellen, wie schön es sein würde, einfach wieder zuhause zu sein, in ihrem eigenen Bett – und dort aufzuwachen, nur um festzustellen, dass all das nur ein böser Traum gewesen war. Selbst Mamsell Faunhauf würde sie nun mit einer Umarmung begrüßen. Doch das war ein Traum. Oder doch?
Joses schnarchen riss sie aus ihrem Halbschlaf. Sie blinzelte, trübes Tageslicht fiel durch die Fenster. Unter ihnen herrschte Stille. Die Sonne war aufgegangen, sie hörte sogar Vogelgezwitscher. Von dem unheimlichen Licht war jedoch nichts zu sehen, doch das mochte auch am Sonnenlicht liegen. War es vorbei?
Sie stupste Jose an. „Oh, was?“, murmelte er und zuckte plötzlich in eine aufrechte Position. „Bin ich eingeschlafen?“
„Ja.“ Eske musste dabei sogar lächeln.
„Sind sie fort?“
„Ich weiß es nicht. Ich höre nichts mehr.“ Sie krabbelte auf allen Vieren zu einem der kleinen Fenster und spähte hinaus. „Vielleicht ist der Spuk endlich vorbei.“ Draußen war alles ruhig. Eske konnte die Vögel in den Zweigen der Bäume sogar sehen. „Sieht aus, als seien sie nicht mehr dort.“
Jose stöhnte und rutschte zur Luke hin. Vorsichtig hob er sie an und sah hinunter. Kurz darauf öffnete er sie ganz. Licht durchflutete die Hütte unter ihnen. Die Tür lag zersplittert auf dem Boden. „Ich geh zuerst“, sagte Eske und ließ ich nach unten fallen. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, das Regal war an einer Seite von der Wand gerissen und Liege und Decken zerrissen. Doch die Leichname waren fort.
„Ich komme runter.“ Kurz darauf landete Jose neben ihr und keuchte auf. Erst jetzt sah Eske, dass er verletzt war. Der Leichnam hatte ihm nicht nur den Stiefel vom Bein gerissen, er hatte auch tiefe Striemen in seinem Fleisch hinterlassen; Striemen, die bereits eine ungesunde, dunkle Farbe angenommen hatten. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen und seine Augen glänzten glasig. Beunruhigt kniete sich Eske neben ihn und legte eine Hand auf seine Stirn. „Du glühst ja! Warum hast du nichts gesagt?“
Doch Jose schüttelte den Kopf. Sogar jetzt war sein Lächeln noch charmant. „Der wahre Recke jammert nicht. Außerdem …“ Er hielt inne, als er versuchte aufzustehen. Eske legte seinen Arm um ihre Schulter und half ihm hoch. Erst dann sprach er aus, was er begonnen hatte: „Außerdem waren wir von lebenden Leichen umzingelt. Ich hätte dich kaum schicken können, einen Medicus zu holen.“
Eske seufzte. Er hatte Recht. Dennoch gäbe es auch eine andere Lösung. „Du könntest hier warten. Ich laufe zum Anwesen zurück und …“
„Und was?“, unterbracht Jose sie. „Und kommst mit einer Armee zurück, um mich zu retten?“
„Nein, aber ich bin alleine schneller und könnte Hilfe holen. Du kannst kaum laufen. Außerdem möchte ich dich wohlbehalten und an einem Stück zu Editha zurückbringen.“
Jose sah hinauf zu der Luke und schüttelte den Kopf. „Liebste Eske, ich fürchte, ich schaffe es nicht mehr hinauf. Und hier unten werden ich ganz sicher nicht alleine bleiben.“ Er brauchte nicht sagen, weswegen. Sollte dieser Fluch nicht vorbei sein, wäre er hier unten schon den kleinsten toten Nager ausgeliefert, von den Frauenleichen oder dem Baron gar nicht zu sprechen.
„Na schön, gehen wir“, schloss Eske das Gespräch und half Jose hinaus.
