Fassungslos kniete Eske neben Kanu’um. Sie wagte nicht, ihn anzufassen. Sie wollte nicht sehen, wie seine Glieder zerrissen und wie dieses faszinierende Gesicht zerfallen war; oder seine leeren Augenhöhlen. Wie betäubt ließ sie sich von den Händen davonführen, die sich auf ihre Schultern legten. Was bei allen Göttern war passiert? Es gab nur eine Person, die ihr das beantworten konnte. Sie machte sich los, ließ Meister zu Lauenkamp stehen und baute sich vor dem Baron auf. Jose, der mit dem Wachmann diskutierte, hielt inne und sah sie an. Sie vernahm ihren Namen, doch es war ihr egal. Sie starrte den Baron an, diesen Mann, dem sie niemals in ihrem Leben hätte begegnen dürfen. Der irrsinnige Schimmer, den sie gesehen hatte, als er ihr den Fokus implantiert hatte, war nicht mehr nur in seinen Augen zu finden. Sein ganzes Gesicht zeichnete der Wahnsinn, als er ihrem Blick begegnete. „Er hat sie umgebracht, seine eigene Mutter“, sagte er und lachte freundlos. „Nein, nein, das war nicht unser Sohn, das war er.“ Etwas in der Art wiederholte der Baron, immer und immer wieder.
Eske hörte dem Geplapper zu, eine ganze Weile lang, doch sie verstand nicht. Ihr Innerstes fühlte sich dumpf an. Ähnlich musste sich der Baron fühlen. Genauso, wie es sie nach dem Warum verlangte, schien der Baron sich rechtfertigen zu wollen. Doch ihm fehlte die Richtung. Also griff Eske nach einem Kragen und brachte das Gesicht des Barons dicht vor das ihre. Er wirkte erschrocken, doch in ihr wirbelte die Frage in einem wilden Echo, dass sie bezwingen musste: „Warum?! Warum habt Ihr das getan? Warum habt Ihr all das hier getan!“
„All das hier?“, stotterte der Baron. Seine Augen wanderten von links nach rechts, in dem Versuch an Eske vorbeizuschauen, doch sie ließ ihn nicht los; sie schüttelte ihn. „Was habt Ihr mit Eurer Frau und Kanu’um gemacht?!“
„Ich habe sie am Leben gehalten. Sie war tot. Meine Frau war tot! Ich wollte sie nicht verlieren.“
„Sie war ein lebender Leichnam?“, wiederholte Jose, sah zu der Baronin hin und schüttelte sich angeekelt. „Ich habe eine lebende Leiche mit einem Dolch bedroht …“
„Und Kanu’um?“, wollte Eske wissen. Ohne es zu merken, schwoll ihre Stimme immer weiter an.
„Kanu’um? Ja, ja, den Namen gab er ich selbst.“
„Was soll das heißen?“ Verärgert, verzweifelt und entgeistert schüttelte sie ihn noch einmal.
„Ich wollte es bei Selista besser machen, als bei Yolend. Er war danach gespalten. Die Seele ließ sich nicht vollständig von seinem neuen Körper trennen. Als ich ihn wiederbelebte war er nicht mehr nur Yolend. Der andere gehörte plötzlich zu ihm.“
Eske verstand und ließ den Baron so plötzlich los, dass dieser das Gleichgewicht verlor. Sie tastete nach dem Fokus in ihrem Nacken. Das, was sie mit ihr vorgehabt hatten, hatten sie zuvor bereits Kanu‘um angetan. Hastig sah sie sich nach dem Orden um. Dieser lag unversehrt im Schlamm. Eske zog einen massiven Ast aus dem Gestrüpp und schlug auf den Orden ein.
„Eske?“ Jose klang besorgt, doch sie hörte nicht auf. Erst, als auch der blaue Stein am Orden splitterte und ein Blitz gen Himmel zuckte, ließ sie ab und trat zurück. Kurz darauf grollte es über ihnen, die Wolken wurden von den gleichen blauen Funken durchzuckt, wie auch Kanu‘um und die Baronin zuvor. Doch dieses Mal entluden sie sich in einem gewaltigen Blitzgewitter im Wald um sie herum. Eske schlug die Hände über den Kopf und kniff die Augen zusammen. Sie hörte nun auch die letzten Pferde. Die Kutsche hielt sie nicht auf, sie zogen das Geführt mit sich davon.
Eine Zeit lang war es um sie herum völlig still und dunkel. Der Sturm war plötzlich abgeklungen und bis auf den Baron, der noch immer leise plapperte, sagte niemand ein Wort. Jose brach das Schweigen mit einem Räuspern. „Eske, wir sollten gehen. Unser Freund hier wird den Baron nach Hause bringen und wir werden die Behörde zur Kontrolle unlauterer Magie allarmieren.“ Er klopfte zuerst dem Wachmann auf die Schulter und legte dann Eske aufmunternd einen Arm um der Schulter legen. „Diese Nacht war mehr als anstrengend.“
„Freunde“, sagte Meister zu Lauenkamp.
„Ich freue mich auf ein warmes Bad zuhause.“ Jose lenkte Eske in eine Richtung. „Und dir wird Klara sicherlich einen Mohnwein …“
„Freunde!“
Eske runzelte die Stirn und drehte sich zu Meister zu Lauenkamp um. Doch da sah sie es selbst. Es schien, als hätte der Wald um sie herum begonnen zu glühen. Das blaue Licht hatte den Boden getränkt und tauchte die Pflanzen in ein kühles Licht.
„Es scheint, als hätte es eine magische Rückkopplung gegeben.“
„Rückkopplung?“ Jose verstand nicht, seine Stimme war angespannt. „Was für eine Rückkopplung?“
Meister zu Lauenkamp hob die Hände und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Das kann alles Mögliche sein. Sie hat in jedem Fall meinen Sturmzauber aufgehoben. Vielleicht läuft sich die restliche magische Energie nur in Licht aus, vielleicht hat sie noch einen anderen Effekt. Das ist schwer zu sagen.“
Ein lautes Knacken im Wald tönte zu ihnen und zugleich ein lautes Stöhnen und Keuchen. „Was ist das?“
Meister zu Lauenkamp konnte Joses Frage nicht beantworten und so Jose rief Jose in den Wald hinein: „Ist da jemand?“ Er bekam keine Antwort, doch das Geräusch wurde lauter. Der Wachmann zog sein Schwert und Jose seinen Dolch und nahm Meister zu Lauenkamp die Lampe aus der Hand, als direkt vor ihnen eine Gestalt aus dem Wald torkelte. Eske wurde übel. Die Reste des Kleides deuteten darauf hin, dass es einmal eine Frau gewesen war, doch Haut und Fleisch hingen in Fetzen. Eine Augenhöhle war leer, aus der anderen hing der Augapfel an seiner Sehne heraus. Darunter breiteten die Zähne ohne Lippen zu einem Grinsen aus. Die Gestalt schlurfte durch den Wald und jammerte. Jose sprang zurück, als eine zweite Gestalt aus dem Dunkel des Waldes torkelte. Das Jammern und Stöhnen deutete auf noch mehr lebender Leichen hin. Meister zu Lauenkamp sandte sein zweites Stoßgebet an die Götter.
„Es scheint, als hätten wir die Frauenleichen doch noch gefunden“, sagte Jose.
