Malerin der Toten 14

Kanu’um führte sie durch einen niedrigen Durchgang am Fuße der Treppe durch einen langen, gewundenen Gang. Boden und Wände waren fester Erde, gestützt von Pfeilern, die in geringen Abständen in den Gang hineinragten. Auch ohne die Pfeiler war kaum genug Platz, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Meister zu Lauenkamp bildete die Vorhut, er hatte die Öllampe mitgenommen, doch sie sie umriss nicht mehr, als Kanu’ums Schatten vor Eske.
„Eske?“ Auch wenn Jose leise sprach, es hallte unangenehm von den Wänden wider und übertönte die eigentümliche Stille. „Was ist dieser Fokus, von dem du gesprochen hast?“
Statt Eske antwortete Kanu’um über seine Schulter hinweg. „Er verstärkt oder speichert jede Art von Magie.“
„Dich habe ich nicht gefragt!“ Einen Augenblick schwieg Jose. „Heißt das, er kann nicht zaubern?“
Wieder antwortete Kanu’um: „Es war mein Fokus, der mich geheilt hat, falls Ihr das meint.“
Jose murmelte etwas Unverständliches und Eske verdrehte die Augen. „Jose, musst jetzt streit anfangen?“
„Ich möchte keinen Streit anfangen“, beteuerte er. „Meine Fragen waren jedoch an dich gerichtet, nicht an diesen Gauner!“
Kanu’um blieb stehen und auch Eske drehte sich zu Jose um. „Ich hätte dir diese Fragen nicht beantworten können.“
„Trotzdem hätte der Anstand geboten, dass du mir das zuvor sagst.“
„Jose, ihr habt mich gerade aus einer winzigen Zelle in einem trostlosen Kerker befreit, wir sind auf der Flucht! Und du redest von Anstand?“
„Wir sind fast da“, unterbrach Knau’um sie einfach. Jetzt war es fast stockdunkel um sie herum. Den Lichtkegel der Lampe und die Konturen von Meister zu Lauenkamp sah Eske einige Meter entfernt an einer Leiter stehen.
„Dann lasst uns endlich gehen.“ Jose schob sich an Kanu’um vorbei. Eske wollte ihm folgen, doch Kanu’um hielt plötzlich ihren Arm fest. Sie schnappte nach Luft, unterdrückte jedoch den Impuls sich sofort zu befreien.
„Wartet“, sagte Kanu’um. „Es wäre besser, Eske und ich gingen zuerst hinauf, für den Fall, dass jemand auf uns wartet.“
„Was?!“ Jose wollte wieder aus der Haut fahren, doch Meister zu Lauenkamp legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Junge, es ist wirklich sicherer.“
Jose grummelte leise eine Bestätigung und Kanu’um kletterte die Leiter hinauf, zog und schob im unergründlichen Dunkel vor ihm, bis sich eine Luke öffnete. Schwaches Licht wurde von einem Windstoß hereingeweht. „Sei vorsichtig“, sagte Jose noch, ehe Eske Kanu’um folgte. Sie Kletterte hinaus und stand am Fuße einer Statue. Der Wind tobte und zerrte an den Hecken, die sie von allen Seiten umringten. Der Himmel war von dunklen Wolken angeschwollen, zwischen denen Eske die letzten Strahlen der untergehenden Sonnen am Horizont ausmachen konnte. „Ich bringe euch zum westlichen Ausgang. Von dort ist es nicht mehr weit zur Straße. Wenn ihr erst im Wald seid, werden sie euch nicht mehr finden.“ Gleich darauf forderte er Jose und Meister zu Lauenkamp auf, heraufzukommen und sah sie so offen an, wie … ja, wie wann? Eske war sich sicher, sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen, doch es schien ihr so unendlich lange her zu sein, dass sie sich kaum erinnerte. Vielleicht damals, in der Schenke? „Warum hilfst du mir plötzlich?“
„Ich helfe dir nicht. Ich werde dazu gezwungen, dir zu helfen.“
Eske wusste, es war eine Lüge; sein Lächeln bezeugte es. Es schien eher, als hätte er auf eine Gelegenheit gewartet, ihr helfen zu können. Und sie erwiderte das Lächeln.
„Eske!“, riss Jose sie aus ihren Gedanken und sah sie vorwurfsvoll an. Sie konnte nicht verhindern, dass sie errötete und war froh um den dunklen Himmel. Ächzend gesellte sich auch Meister zu Lauenkamp dazu. „Kinder, ich bin zu alt dafür.“

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