Bis in den frühen Nachmittag hinein verbrachte Jose damit, einen Kartographen zu suchen, der die nötigen Karten vorweisen konnte. Jedes Mal wurde er mit seinem Anliegen milde belächelt. Dabei hatte er sich einen plausiblen Vorwand ausgedacht. Er sei auf der Suche nach Tonerde in der Umgebung, gab er vor, um seiner Verlobten eine Freude zu machen. Mit seiner Ausbeute von zwei zusammengerollten Karten und einer Mappe aus einzelnen Blättern, betrat er den Salon – und wurde von Editha aufgeregt begrüßt.
„Liebling!“ Sie eilte auf ihn zu, nahm ihn bei den Händen und zog ihn herein. Beinahe hätte er dabei die Karten fallen lassen. „Endlich bist du zurück!“
„Edi, meine Mission wäre beinahe gescheitert“, versuchte er anzusetzen ihr sein Leid zu klagen, doch seine Verlobte viel ihm ins Wort: „Liebling, wir haben Besuch.“
Ein älterer Mann erhob sich von einem der Sessel und verneigte sich flüchtig. Seine grauen Haare trug er lang und hatte sie im Nacken zusammengebunden. Seine Kleidung bestand aus einer weiten Tunika und dazu passender Hose, beides mit verzierten Säumen und gepflegt. Dennoch bot sie für diese Gegend einen ungewöhnlichen Anblick. „Liebling, das ist Meister Kerlar zu Lauenkamp“, stellte ihn Editha vor.
Jose war überrumpelt. „Meister zu Lauenkamp?“ Seit dem Besuch auf dem Anwesen waren seine Gedanken so durcheinander, geprägt von der Angst um seine Freundin und der unerschütterlichen Hoffnung, dass alles nur ein Missverständnis war.
„Er ist ebenfalls Künstler“, half Editha aus. „Und er war ebenfalls auf das Anwesen geladen und dort vorstellig zu werden.“
Kerlar nickte. „Fräulein Lammfeld hat gute Arbeit geleistet und mich beeindruckt. Als sie sich nicht bei mir meldete, wollte ich sie aufsuchen.“
Verwirrt sah Jose zwischen seiner Verlobten und dem Künstler hin und her. Sie wollten ihm etwas mitteilen, doch er verstand nicht, worauf sie hinaus wollten. „Entschuldigt mich“, wiegelte er die beiden zunächst ab und gewann Zeit sich zu sammeln, als er die Karten auf einem Sekretär ablegte. „Ihr seid auf der Suche nach Fräulein Lammfeld hier her gekommen?“, wandte er sich Kerlar, in der Hoffnung, den Faden endlich gefunden zu haben. Meister zu Lauenkamp nickte. „Sie ist eine große Künstlerin, das ist meine bescheidene Meinung. Ihr könnt stolz auf Eure Freundin sein.“
Editha musste bemerkt haben, dass Jose nicht folgen konnte und schaltete sich ein. „Meister zu Lauenkamp hat zufällig das Portrait gesehen, das Eske mir gab. Er erinnerte sich, die Frau vor einigen Jahren gesehen zu haben. Es ist die Baronin Salista von Saalkenboem, die Frau des Barons.“ Editha legte ihm einer Mahnung gleich eine Hand auf den Arm. Jose bemühte sich um Ruhe und stand stocksteif, als Kerlar begann zu berichten, wie er in den Genuss kam, die Baronin kennenzulernen: Es war die Feier eines anderen ansässigen Adeligen gewesen, für den Kerlar zu der Zeit eine Meisterwerk angefertigt hatte. „Niemand hatte damit gerechnet, dass sie plötzlich so erfrischt dort erscheinen würde, nach der langen Krankheit. Es war das erste Mal, dass sie sich wieder außer Haus ging, deswegen war es so ungewöhnlich. Das muss vor zehn oder zwölf Jahren gewesen sein. Als ich Fräulein Lammfeld vor einigen Wochen sah, dachte ich zuerst, sie sei die Baronin von Saalkenboem. Doch seit dem Tod ihres einzigen Kindes, hat sie niemand mehr zu Gesicht bekommen. Eine tragische Geschichte und seinerzeit in aller Munde!“
„Vor über drei Jahren kam der Sohn des Barons bei einem Unfall ums Leben“, erklärte Editha umsichtig und hinderte Kerlar somit daran, noch weiter abzuschweifen. „Wie er genau sein Leben verlor, weiß niemand – außer dem Baron und der Baronin. Vielleicht erinnerst du dich an das Gerede in den hohen Kreisen?“
Dazu nickte Kerlar bedeutungsschwanger. „Ein Mysterium um das es viele Gerüchte gibt.“
„Ja.“ Jose dachte einen Augenblick nach. „Ja, ich denke, ich erinnere mich“, bestätigte er und sprach endlich einen anderen Gedanken aus, der ihm bei der Vorstellung des Meisters gekommen war. „ihr wart auch zu dem Anwesen geladen?“ Eine Antwort wollte er nicht haben, sondern sah seine Verlobte eindringlich an. „Edi, dann geht es vielleicht nicht um Eske!“ Es war seltsam, doch diese Feststellung erleichterte ihn.
Editha schüttelte den Kopf und tätschelte seinen Arm, bevor sie ihn endlich los ließ. „Ich vermute, die Barone wollten zunächst wirklich nur ein Portrait anfertigen lassen. Erst als der Baron Eskes Ähnlichkeit mit seiner Frau sah, muss er seine Pläne geändert haben. Was auch immer sie vorhaben mögen, sie brauchen Zeit es vorzubereiten, sonst wäre Eske vielleicht schon etwas geschehen. Aber die Götter alleine wissen, wie viel Zeit sie benötigen. Liebling …“ Sie hielt kurz inne und sah Kerlar an. „ich habe Meister Lauenkamp gebeten, Eske einen Besuch abzustatten, da wir uns erst in einigen Tagen angekündigt haben.“
„Fräulein Lammfeld hat sich nicht bei mir gemeldet, es wird legitim sein, dass ich sie besuche.“
„Und wir, Liebling“, fügte Editha an, „wir werden diese Karten in Augenschein nehmen und dem Tempel der Weisen einen Besuch abstatten. Dort wird irgendjemand etwas mehr über die von Saalkenboems wissen. Vielleicht finden wir in ihrer Vergangenheit oder auch dem oder ihres Sohnes einen Hinweis darauf, was sie planen könnten.“
Eske stand im Dunkeln vor dem unfertigen Portrait der Baronin. Es war bereits weit nach Mitternacht. Nachdem sie sich aus dem Kleid hatte helfen lassen und getan hatte als sei sie zu Bett gegangen, war sie in ihre eigene Kleidung geschlüpft um durch das Haus zu schleichen – wie bereits seit einigen Nächten. Es hatte lange gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wann sie hinausschleichen konnte und noch länger, bis sie sich sicher war, dass im Haus des Nachts niemand Wache hielt. Dennoch, sie hatte nie gefunden, was sie suchte. Sie hatte keinen Geheimgang ausfindig gemacht, kein geheimes Labor, nichts ungewöhnliches. Sogar den Garten hatte sie überprüft, war allein im Licht der beiden Monde durch das Labyrinth feinsäuberlich geschnittener Hecken geschlichen, damit die privaten Gardisten des Anwesens sie nicht erwischten; erfolglos! Wenn sie nur wüsste, wonach sie zu suchen hatte, doch ihre Phantasie war an ihre Grenzen geraten. Ihr fiel nichts mehr ein.
Jetzt war sie hier, der Verzweiflung nahe und lief auf nackten Sohlen unruhig auf und ab, während sie nachdachte. Sie sollte die nächste Nacht, die Kanu’um verschwand, versuchen zu fliehen. Sie musste fort. Jetzt, nach drei Wochen würde niemand damit rechnen, dass sie noch davonlief. Sie würde ein paar Sachen packen und dann … Ein Knarzen riss sie aus den Gedanken. Dazu gesellten sich leise Stimmen. Vorsichtig öffnete Eske die Tür zum Flur einen Spalt breit und sah Licht. Die Stimmen wurden deutlicher, jedoch verstand sie kein Wort. Neugier packte sie. Über Wochen hinweg war dieses Haus des nachts wie ausgestorben, wer schlich sie nun also plötzlich ebenfalls durch das Anwesen? Ihre nackten Füße machten wenig Geräusche, als sie sich langsam näherte, dicht an der Wand. Allmählich erkannte sie die Stimmen, es waren der Baron und Kanu’um.
„… nicht mehr lange“, sagte der Baron gerade. „Dieses Mal wird es gelingen.“ Es entstand eine Pause, dann lachte der Baron leise. „Mein lieber Junge, ich weiß, du hast etwas für sie übrig. Doch es gibt andere, selbst für einen wie dich.“
Kanu’um flüsterte etwas, doch Eske verstand es nicht, Jedoch machte es den Baron wütend. Dieser zischte plötzlich: „Du wirst dafür sorgen, verstanden?!“ Es Knarzte wieder und Eske schielte vorsichtig um die Ecke. Im Lichtkegel des Kerzenleuchters, der neben ihnen an der Wand hing, konnte Eske die beiden deutlich sehen. Kanu’um hatte die Schultern gestrafft und starrte dem Baron entgegen. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch dafür die Zornesfalten auf der Stirn des Barons von Saalkenboem.
„Du weißt, was dir blüht, wenn du wiedersprichst“, drohte der Baron und legte eine Hand über den Orden an seiner Weste. Der blaue Stein daran begann zu leuchten – und gleichzeitig keimte das gleiche Licht durch Kanu’ums Hemd im Nacken; und Kanu’um unterdrückte einen Schrei. Seine Hand griff in seinen Nacken.
Eske dachte nicht weiter darüber nach. „Hört auf!“, rief sie und stürzte auf die beiden zu. Sie wollte dem Baron den Orden von der Weste zu reißen und den Stein auf dem Boden zerschmettern. Beide waren so überrascht, dass sie es sogar schaffte, die Hand danach auszustrecken, doch dann packte der Baron ihr Handgelenk. „Fräulein Lammfeld …“
Mehr ließ sie ihn nicht sagen. „Ich weiß nicht, was ihr hier treibt, doch was gibt Euch das Recht, so mit Kanu‘um umzugehen?!“ Sie entriss sich seinem Griff und ballte die Hände zu Fäusten. Ihr ganzes Dilemma, die aufgestaute Angst, die Verzweiflung, die Wut, der Nervenkitzel, der sich jede Nacht eingestellt hatte, all das suchte sich nun seinen Weg.
„Eske, was tust du da?“, fragte Kanu’um hinter ihr und sie drehte sich zu ihm um. „Was ich tue? Weswegen tust du nichts? Er hat dich damit in seiner Gewalt, Kanu’um!“ Jetzt funkelte sie den Barn an. „Ihr solltet Euch schämen. Eure Bediensteten tuscheln, wusstet Ihr das? Ihr seid selbstgefällig und niemand scheint es hier lange auszuhalten! Aber niemand hat euch für einen Magier gehalten, und einen gemeinen noch dazu.“
Noch während sie sprach, veränderte sich etwas in dem Gesicht des Barons, es wurde finster und er lächelte. „In diesem Haus habe ich jedes Recht, das ich nur will. Kanu’um ist mein Geschöpf, ich kann mit ihm umgehen, wie immer es mir beliebt.“ Der Ausdruck in seinen Augen war plötzlich verklärt. „Bei Euch werde ich es besser machen, als bei ihm. Kanu’um!“
Noch ehe Eske verstand, was der Baron damit meinte, umklammerte Kanu’um sie von hinten. Sie wollte Kreischen, doch er hielt ihr Mund und Nase zu. Eske schrie so laut sie konnte, zappelte und versuchte sich zu wehren, doch ihr fehlte die Luft. Kanu’um ließ nicht locker. Sie konnte nicht atmen, ihre Lungen begannen zu brennen, doch Kanu’um blieb erbarmungslos. „Verzeih mir“, flüsterte er ihr ins Ohr, kurz bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
