Zwei weitere Stunden später öffnete Kanu’um ihr die Tür zum Hof. Eske wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, die Skizzen so ruhig zu zeichnen. Sie war schlicht in das Antlitz der Baronin vertieft, hatte jede Unähnlichkeit ausgemacht. Ja, sie sah ihr ähnlich, sie hätten Schwestern sein können.
Als Eske darüber nachdachte, zitterten ihre Beine und mit jedem Moment, den sie nun länger in diesem Haus bleiben musste, schnürrte sich ihre Kehle etwas weiter zu. Umso mehr ersehnte sie nun den Anblick ihrer Kutsche. Kaum hatte sie jedoch einen Fuß aus der Eingangstür gesetzt, hielt sie nichts mehr. Sie stürzte davon, der Kutsche entgegen – doch nur wenige Schritte. Kanu’um war plötzlich neben ihr und umklammerte ihren Unterarm, blieb aber nicht stehen. „Bleibt ruhig!“, zischte er. „So lange sie nicht ahnen, dass Ihr etwas wisst, verliert Ihr nicht die Freiheit euch im Haus ohne Aufsicht zu bewegen.“ Der schmerzhafte Druck seiner Hand brachte sie dazu, den Verzweiflungsschrei herunterzuschlucken und statt sich zu wehren, langsamer mit ihm zu gehen.
„Was haben die mit mir vor?!“
„Ich weiß es nicht“, gab er zu und versuchte ein mehr schlenderndes Tempo an den Tag zu legen. Der Weg zur Kutsche war nicht weit. „Als ich Euch sah, Eure Ähnlichkeit zu der Baronin, wusste ich, sie würden mit Euch etwas Besonderes planen.“
„Etwas Besonderes?“ Eske riss ihren Arm los und sah ihn scharf an. „Etwas Schlechtes meint Ihr!“
Kanu’um schüttelte den Kopf. „Eure Bilder sind nicht schlecht“, versicherte er ihr ebenso laut, wie sie soeben gesprochen hatte und nahm wieder ihren Arm, dieses Mal jedoch sanfter. Jetzt wurde er wieder leiser. „Ihr solltet Euch mäßigen. Man wird Euch für verrückt halten, wenn Ihr behauptet, ihr glaubt, die Barone wollen Euch etwas anhaben.“
„Dann lasst mich fliehen!“
„Ich habe Euch gewarnt, mehr kann ich nicht tun.“ Jetzt sah er sie ernst an. „Und ich werde verhindern, dass Ihr flieht.“
Eske öffnete den Mund, um noch etwas einzuwenden. doch sie wusste nicht was. Einerseits konnte sie sich glücklich schätzen, dass ausgerechnet Kanu’um ihr Aufpasser zu sein schien. Andererseits verstand sie nicht, weswegen er nicht von seinem Standpunkt weichen wollte. Sie blieb wieder stehen und zwang Kanu’um ebenfalls innezuhalten und sie anzusehen. „Wenn Ihr fürchtet, sie würden sich an Euch rächen, dann flieht ebenfalls“, beschwörte sie ihn und nahm seine Hände in die ihren. Sie spürte, wie sie rot wurde, doch jetzt war es ihr egal. „Als wir uns in der Taverne unterhalten haben, habe ich … ich mochte Euch, auf Anhieb. Eurer Benehmen mir gegenüber, Eure Sorge, sagt mir, ich bin Euch nicht egal.“
Einen Moment sah er auf seine Hände, doch dann zog er sie zurück. „Ihr seid anders, als die Mädchen, die ich sonst hier her bringe. Ihr seid keine selbstgefällige Gaunerin oder habgierige Dirne. Ihr habt es nicht verdient, dass ich Eure Leiche irgendwo im Wald verscharre.“
Sie war nicht die erste, die in das Haus geholt wurde? Eske sah ihn entgeistert an. „Wieviele?“, fragte sie tonlos.
„Seit elf Jahren, jeden Sommer eine. Seit die Baronin erkrankte.“
Eske kannte Geschichten, Lieder von eitlen Zauberern, die sich des Lebens anderer bedienten, um selbst dem Tode zu entgehen. Oder einer Krankheit. „Sie verlängern ihr Leben“, flüsterte Eske und griff sich an die Kehle. „Ist es nicht so?“
Kanu’um nickte. „Ich fürchte dennoch, ihr werdet anders enden.“
Eske holte Luft, dennoch hatte sie das Gefühl keine zu bekommen. Sie atmete, sie wusste, dass sie atmete. Die Luft schien ihre Lungen dennoch nicht zu erreichen. Kanu’um sah sie eindringlich an und
Schüttelte sie sogar. Doch in ihren Ohren rauschte es so sehr, dass sie nicht verstand, was er sagte. Sie sollte umgebracht werden! Schlimmer noch, sie hatte grauenhafte Vorstellungen davon, was mit ihrem Tod für Qualen einhergehen würden. Wie sollte sie da ruhig bleiben?! Plötzlich umarmte er sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Komm wieder zu dir, Eske. Reiß dich so lange zusammen, bis wir in deinem Atelier sind. Dort kannst du weinen. So lange du nicht in einem Zimmer eingesperrt wirst, hast du viele Gelegenheiten dien Schicksal abzuwenden. Doch dazu musst du dich beruhigen.“
Ihr Schicksal abwenden … Wie sollte sie das tun? Doch er hatte recht: wusste sie schon nicht, wie es mit ihrer Freiheit schaffen sollte, wie sollte sie es, wen sie eingesperrt war?
„Ich weiß, du kannst dich verstellen.“ Seine Hand strich beruhigend über ihren Rücken. Sie hatte wieder Luft zum Atmen, sie erstickte nicht. Sie kämpfte die Tränen nieder und löste sich von ihm, trocknete ihre Wangen und lächelte. Es musste gequält aussehen, doch er lächelte zurück. So legten sie die letzten Schritte zur Kuschte zurück und sie entschuldigte sich sogar bei der Kutscherin. Sie wäre einfach überwältigt, dass sie ihre Künste in diesem Anwesen ausleben dürfte, behauptete sie. Die Kutscherin nahm es hin, ob sie ihr glaubte oder nicht, war ihr nicht anzusehen.
