Malerin der Toten 4

Strich um Strich zeichnete Eske. Während ihre Kreide über das Papier glitt fielen ihr so viel mehr Details ins Auge: an den Schläfen wurden die dunkelblonden Haare des Barons schütter und grau, während sie sich auf seinem Kopf selbst lichteten; an seiner mit Silber durchwirkten grauen Weste haftete ein Orden, geprägt mit dem Familienwappen und verziert mit einem grünen Stein; seine Finger waren kurz und kräftig und an seinen unteren Fingergliedern sprossen feine Haare, die von den beiden Ringen an jedem Mittel und Ringfinger niedergedrückt wurden.
All das sah sie erst, während sie zeichnete. Und all das floss in ihre Zeichnung mit ein. Sie störte sich nicht an dem Glas Wein, dass der Baron von Saalkenboem trank, während er Modell saß. Sie zeichnete ihn mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien und dem freundlichen Blick, den die kleinen Fältchen unter seinen Augen bewirkten. Sie war noch nicht ganz fertig, als der Baron die Zeichenarbeiten beendete. Dennoch legte sie pflichtbewusst sie bunte Kreide beiseite und trat von ihrem Werk zurück. Mit den anderen Künstlern wurde sie in einen Salon gebracht, dessen Wände mit gelben und braunen Vorhängen geschmückt waren, passend zu dem üppigen Mobilliar aus Sesseln und Tischchen. Eske ließ sich nieder und war froh, als der alte Maler sich zu ihr gesellte.
„Junge Frau, Ihr habt mich beeindruckt“, gestand er ohne Umschweife und lächelte sie an. „Darf ich mich vorstellen? Kerlar zu Lauenkamp mein Name.“
Eske lächelte zurück. „Es ist mir eine Ehre. Euer Name ist in der Stadt bekannt. Habt ihr nicht die Fresken im Tempel angelegt?“
Kerlar nickte bestätigend und folgte ihrem Blick zu den beiden anderen, die sich ebenfalls zusammen niedergelassen hatten. Sie flüsterten und irgendetwas sagte Eske, sie sprachen über sie. Doch Kerlar neben ihr schnaufte abfällig. „Glaubt mir, diese beiden halten sich für unschlagbar.“ Unvermittelt nahm er ihre Hand und tätschelte sie. „Meine Liebe, Ihr habt den Mut aufgebracht, der mit seinerzeit gefehlt hat. Ich habe mir den Namen meines Mentors ausgedacht.“ Er zwinkerte ihr schelmisch zu.
„Wollt ihr mir weiß machen, Ihr hättet ebenfalls ohne einen bekannten Mentor angefangen?“
Kerlar lachte und schüttelte den Kopf. „Oh, das habe ich auch. Ich hatte nur nie den Mut, es zuzugeben. Aber wie Ihr bereits sagtet: Mein Name ist bekannt. Was würdet Ihr davon halten, in Zukunft meinen Namen als Mentor angeben zu können?“
Dieses Angebot überwältigte Eske. Sie konnte den alten Maler nur anstarren, während sich langsam machte sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht breit machte. Zu einer Antwort kam sie jedoch nicht, denn in dem Moment, als sie den Mund öffnete, öffnete sich die Tür und ein junger Mann trat ein. Seine Kleidung war in dem selben Blau gehalten, wie die der Diener, doch sie war edler. Über einem hellblauen Hemd trug er eine dunklere Tunika, die wie die Weste des Barons von Silber durchwirkt war. Doch etwas an dem jungen Bediensteten irritierte Eske. Seine schwarzen Haare umrahmten ein fein geschnittenes, fast edles Gesicht, in dem graugrüne Augen dominierten … sie hatte diese Augen schon einmal gesehen.
„Guten Abend, mein Name ist Kanu’un“, stellte er sich vor und verneigte sich. „Seine Lordschaft wies mich an, den Herrschaften seine Entscheidung zu verkünden. Fräulein Eske Lammfeld erhält den Auftrag. Alle anderen werden gebeten, das Anwesen unverzüglich zu verlassen.“
„Unverzüglich?“, schnappte die Malerin, doch ein weiterer Diener forderte sie bereits auf, den Salon zu verlassen.
Neben ihr brummte Kerlar anerkennend. „Gut gemacht! Dennoch, mein Angebot steht“, raunte er ihr noch zu, ehe auch er hinausgebracht wurde – und Eske alleine mit Kanu’um mitten im Salon stand.
„Ihr wart …“, setzte sie an, doch Kanu’un schnitt ihr das Wort ab. „Das tut nichts zur Sache. Ihr habt nicht auf mich gehört.“ Sein Tonfall war trocken und ohne ein weiteres Wort bedeutete er ihr, ihm zu folgen.
Eske verstand nicht, worauf er hinaus wollte und folgte hastig. Er war ihr in der Taverne begegnet. Sie war betrunken gewesen und erinnerte sich nicht an viel, aber seine Augen hatte sie nicht vergessen. Trotzdem wusste sie nicht, wovon er sprach. „Worauf habe ich nicht gehört?“
Er schenkte ihr nur einen düsteren Seitenblick, sprach nun aber deutlich leiser. „Ihr hättet nicht herkommen sollen!“
„Was?“ Unwillkürlich sprach Eske ebenfalls leiser.
„Ich habe Euch gewarnt.“
„Ihr habt …?“ Doch noch ehe sie den Satz ausgesprochen hatte, dämmerte ihr, woher ihre anfänglichen Vorbehalte gekommen waren, als sie den Brief des Barons erhalten hatte. Also schüttelte sie den Kopf. „Weshalb?“
Kanu’un antwortete nicht, sondern blieb vor einer Flügeltür stehen. Er sah sie ernst an. „Dort wartet die Baronin, sie werdet Ihr Portraitieren.“ Als er die Tür öffnete, erhielt Eske die Antwort auf ihre Frage. Die Frau, die neben dem Baron auf einem Divan saß, war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.

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