Joses Verlobte Editha sorgte dafür, dass Eske mit ihrer Kutsche zum Anwesen des Barons fahren konnte. Eskes Aufregung wuchs während der Fahrt – die einfach kein Ende nehmen wollte. Vorbei an den Feldern vor der Stadt, durch die anschließenden Wiesen und ein Wäldchen, kam danach endlich das große Herrenhaus in Sicht, umrahmt von einem Garten voller Hecken, Wege und Rosenbüschen. Die Tore wurden bereitwillig geöffnet und Eskes Kutsche hielt neben drei weiteren auf dem Hof.
Als Eske ausstieg staunte sie. Das Haus erschien ihr riesig. Allein die Treppe bis zur Flügeltür nahm bereits den Raum ihres Zimmers in der Pension ein. Nichteinmal Edithas Haus war auch nur halb so groß, wie diese Villa.
„Fräulein Lammfeld?“ Ein junger Mann in blauer Dienstbotenkleidung eilte ihr entgegen. Nach ein paar Schritten erschien Überraschung auf seinem Gesicht, doch diese schüttelte er schnell ab. „Fräulein Lammfeld, Ihr seid spät, der Baron hat bereits mit der Begutachtung der Bilder begonnen.“ Ohne zu fragen half er ihr, die Bilder und eine Mappe aus der Kutsche zu nehmen und forderte sie auf, ihm zu folgen. Schnellen Schrittes führte er sie durch die Eingangshalle eine Treppe hinauf und durch mehrere Flure und Türen in die Eingeweide des Hauses. Vor einer weiteren Flügeltür blieb der Bedienstete stehen. „Bitte wartet hier, ich werde dem Baron Euer Eintreffen mitteilen“, sagte er, zog sich die Kleidung zurecht, klopfte und verschwand gleich darauf hinter der Tür. Eske hörte ein Flüstern und eine harsche Stimme. Sie hätte sich mehr um Pünktlichkeit bemühen sollen. Dem Beispiel des Bediensteten folgend prüfte sie den Sitz ihres Kleides und des Zopfes, zu dem sie sich ihre Haare gebunden hatte. Zumindest wusste sie, die dunkelblaue Farbe schmeichelte ihren Augen.
Als der Diener die Tür öffnete und sie hereinließ, waren aller Augen auf sie gerichtet. Der Raum war von Licht durchflutet, überall waren Fenster; sogar in der Decke. Zwei Männer und eine weitere Frau konnte sie als Maler ausmachen, denn der Baron war unverkennbar. Sein adrettes Äußeres, seine Art, sie anzuschauen; mit einer Taschenuhr in der Hand hatte er ihr Eintreten erwartet. Er musterte sie von oben bis unten, blieb in ihrem Gesicht hängen und plötzlich wurden seine Züge weicher. „Fräulein Lammfeld nehme ich an?“
Eske knickste höflich und lächelte. „Ich bitte um Entschuldigung, Mylord, ich fürchte meine Kutscherin hat den Weg hier her unterschätzt“, entschuldigte sie sich und brachte ihn damit plötzlich zum Lächeln. Sympathische Fältchen bildeten sich dabei unter seinen Augen. War der erste Eindruck der eines bitteren Mannes gewesen, wirkte er plötzlich freundlich, steckte die Taschenuhr weg und sah sie nichtmehr von oben herab an. „Ich entschuldige, Fräulein Lammfeld“, schlug er einen schmeichelnden Ton an und forderte den Bediensteten auf, ihre Bilder auf den bereitgestellten Staffeleien aufzustellen. Ihre Zeichenmappe nahm Eske selbst entgegen. Der Baron von Saalkenboem begutachtete ihre Bilder, rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ihr habt klare Linien. Eure Farbkompositionen sagen mir zu.“ Es dauerte einige Minuten und einige weitere Feststellungen, ehe der Baron jedes Bild unter die Lupe genommen hatte. „Unter welchem Mentor habt Ihr Euer Handwerk gelernt?“, wandte er sich schließlich wieder an sie.
Eske biss sich auf die Lippe. Sie hatte gehofft, diese Art von Referenzen würden außen vor bleiben. „Unter keinem“, antwortete sie wahrheitsgemäß, bemüht nicht allzu ausweichend zu klingen. „Alles, was ich kann, habe ich mir selbst beigebracht. Ich kann meine Techniken kaum benennen, doch meine Mutter legte Wert auf eine ausreichende Bildung und erwartete, dass wir uns mit diversen Kleinigkeiten auskannten. Dank einiger Bücher über Zeichenstudien kam ich zu meinem Handwerk.“
In dem Gesicht des Barons flackerte Erstaunen, ihre Künstlerkollegen schienen hingehen über ihr Geständnis amüsiert. Kein Künstler, der etwas auf sich hielt, würde ohne einen namentlich bekannten Mentor auch nur hoffen, den Auftrag eines Barons zu erhalten. Das wusste Eske. Dennoch: Wenn sie schon geladen wurde, war es einen Versuch wert. Was blieb ihr auch anderes übrig, wenn sie nicht für ihre Porzellanpinseleien berühmt werden wollte?
Der Baron von Saalkenboem schien sich an ihrem Geständnis nicht zu stören. Stattdessen nickte er anerkennend und rieb sich wieder das Kinn. „Für so wenig Referenzen seid Ihr sehr strukturiert in Euren Gemälden. Welche Garantie habe ich dafür, dass diese Werke tatsächlich aus Eurer Hand stammen?“ Er hob skeptisch beide Augenbrauen.
Unsicher lächelte Eske und versuchte das Kichern der einzig anderen anwesenden Künstlerin zu ignorieren. „Ihr könntet mich auf die Probe stellen.“ Sie streckte ihm ihre Zeichenmappe entgegen. „Ich kann Euch diverse Skizzen präsentieren. Oder eine anfertigen, wenn Ihr es wollt. Dafür müsst ihr mir nur etwa eine Stunde Zeit geben.“
„Nachdem Ihr bereits zu spät wart, verlangt Ihr noch mehr Zeit?“
Als der Baron es so ausdrückte, kam sich Eske dumm vor. Zu allem Überfluss bemerkte sie, wie ihre Wangen warm wurden – und damit auch rot. Doch der Baron wandte sich den anderen Künstlern zu und breitete die Arme aus. „So sei es! Ihr alle seid aufgefordert, binnen einer Stunde ein Portrait von mir zu zeichnen! Aufgrund dieser werde und den endgültigen Werken werde ich die Wahl treffen.“ Lediglich einer der anderen Maler, der älteste von allen, mit grauen Haaren und in eine weite Robe gewandet, nickte ihr anerkennend zu. Die anderen beiden verdrehten die Augen. Währenddessen forderte der Baron von Saalkenboem den Diener auf, einen Sessel, ein kleines Tischchen, eine Vase mit Blumen und ein Buch zu bringen. Alles wurde neben einem der großen Fenster platziert und für jeden eine Staffelei aufgestellt.
Eske war in ihrem Element, sie zeichnete den Baron so naturgetreu, wie nur möglich.
