Malerin der Toten 2

Im Nachhinein wusste Eske nicht mehr, wie sie den letzten Abend nach Hause gelang war, doch sie erwachte mit einem dröhnenden Schädel und bohrender Übelkeit. „Ich hätte mir einen anderen Tag aussuchen sollen, um in eine Taverne zu gehen“, murmelte sie, als sie zur Waschnische ihres Zimmers schlurfte und einen Blick in den Spiegel warf. Ihre Haare waren zerzaust, die Ringe unter ihren Augen waren dunkler, als ihre Augen selbst. Seufzend wusch sie sich mit dem lauwarmen Wasser aus der Waschschüssel, nahm sich wahllos Hose, Bluse und Jacke und bändigte ihre Haare mit einem Kopftuch. Sie hatte wenig Lust, mit diesem Brummschädel hinunter zu gehen und die Wirtschafterin, Mamsell Faunhauf, wie sie genannt werden wollte, um eine Kanne Tee zu bitten. Dennoch gab sie sich einen Ruck: Der Kater ließ sich nicht durch Selbstmitleid vertreiben. Vor dem Spiegel prüfte sie noch einmal den Sitz ihrer Kleidung und ging gemächlich hinunter zu der Gemeinschaftsstube. Kaum war sie am Fuße angelangt, erschien auch schon die Alte, ganz als hätte sie nur auf Eskes Auftauchen gewartet. Das Fräulein Künstlerin habe sich also endlich aus dem Bett bequemt, sagte sie abfällig und fügte noch einen Kommentar wegen Eskes betrunkenem Erscheinen mitten in der Nacht an. Doch Eske forderte nur eine Kanne Tee und verschwand ohne ein weiteres Wort in die Stube. Immerhin war sie dort alleine, alle anderen Gäste der Pension hatten bereits gefrühstückt und so hatte sie freie Auswahl zwischen Tischen und Sesseln. Sie entschied sich für einen der drei Esstische, um die jeweils vier Stühle standen. Nach der Kanne Tee war die Übelkeit verschwunden und Eskes Kopfbrummen beruhigt. Noch während sie grübelte, ob sie heute Zeit finden würde, an ihrem Stillleben zu arbeiten, erschien Besuch. Die Alte brachte Jose herein. Ihr alter Freund bedankte sich höflich und schob sogar noch ein Kompliment hinterher, das Mamsell Faunhauf ein jugendliches Kichern entlockte. „Eske! Einen guten Morgen – oder schönen Vormittag!“, begrüßte er sie und zwinkerte verschwörerisch. „Ich habe gerade eine Ladung Keramik in deinem Atelier vorbeibringen wollen, aber du warst da nicht aufzufinden.“
„Und da dachtest du, ich bin bestimmt noch hier?“, schlussfolgerte Eske.
„Es war einen Versuch wert.“ Er zog sich einen Stuhl zurecht und ließ sich an ihrem Tisch nieder.
„Du kennst mich zu gut.“ Eske lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und nickte in Richtung der Tür, durch die Jose gekommen war. „Wie schaffst du es eigentlich, der Alten Mamsell Griesgram ein Lachen zu entlocken?“
Jose machte eine wegwerfende Bewegung. „Ach, das ist vergleichsweise nur ein kleines Kunststück. Edi hat mich gut erzogen, wie du siehst.“
„Ja, und gut ausschaffiert“, bestätigte Eske und betrachtet Jose von oben bis unten. Eine feine robuste Reithose, Hemd und Weste aus fein gewebten Stoffen in Grün, passend zu seinen roten Haaren. „Das ist was anderes, als die abgetragenen Sachen deiner Brüder und meine groben Strickwesten.“ Eske griff nach seinen Handgelenken und begutachtete die Manschettenknöpfe. „Uhh, Messingknöpfe. Und die gleichen Applikationen wie an deinem Gürtel.“
Darauf grinste Jose. „Dir entgeht aber auch nichts, Fräulein Lammfeld.“ Er erhob sich und verneigte sich galant. „Editha möchte ihren Zukünftigen eben gebührend präsentieren. Apropos präsentieren, wir haben wegen des Keramiksatzes noch etwas zu besprechen.“
Eske seufzte. „Keramik! Oh, ich wünschte, ich hätte mal wieder einen richtigen Auftrag, jemanden, der meine Malereien schätzt und nicht irgendwelche Blümchen auf Teetassen!“
„Ach ja.“ Jose griff in seine Westentasche und zauberte einen versiegelten Brief hervor. „Vielleicht ist es das, worauf du gewartet hast. Mamsell Griesgram übergab ihn mir eben für dich. Er wurde schon gestern Abend für dich abgegeben.“
Hastig stand Eske auf und nahm sie Jose den Umschlag aus den Händen. Ihr Name prangte auf der Vorderseite in geschwungenen Lettern, hinten war er mit einem Siegel verschlossen. „Hmm, weißt du von wem er ist?“, fragte sie als sie das Siegel brach.
„Nein, Wappen, Siegel und alles, was es sonst über Adelsfamilien zu wissen gibt ist nicht gerade mein Spezialgebiet. Dafür ist Edi zuständig.“
Eske überflog die Zeilen zunächst nur. „Der Baron von Saalkenboem“, sagte sie nachdenklich, doch Jose hob nur die Schultern. Der Brief forderte sie auf mitsamt einer repräsentativen Auswahl ihrer Gemälde zum Sommeranwesen der Familie außerhalb der Stadt zu kommen. „Schon morgen.“ Ein Gedanke bäumte sich in ihrem Hinterkopf auf, der ihr sagte, sie solle die Finger davon lassen.
„Er scheint es eilig zu haben“, meinte Jose und nahm ihr den Brief ab. „Nun, vielleicht hat er von deinem Talent gehört und möchte einige deiner Bilder kaufen.“
Kopfschüttelnd schob sie den Gedanken beiseite. „Oder eines in Auftrag geben!“ Hoffnungsvoll erhob sich Eske und nahm den Brief wieder an sich. Die Vorstellung vertrieb auch den letzten Rest des Katers und sie machte einen kleinen Freudensprung. „Oh, das wäre wundervoll, Jose!“
„Und du hättest es verdient“, bestätigte er und klopfte ihr auf die Schulter. „Ähm, da du nun aber fertig mit deinem … Tee? zu sein scheinst, wollen wir uns wieder dem Geschäft widmen? Meine Kutschte und die Keramik warten draußen.“

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