Rechtfertigung (Alena)

Alena sah zu dem Rat der Wächter auf, alle drei erwiderten Ihren Blick; Demihan kühl, Loriénes enttäuscht, Eliandji mitfühlend.
„Alena, du bist heute hier, um deinen Fehltritt zu rechtfertigen“, eröffnete Loriénes das Protokoll. Er erhob sich seufzend von seinem Platz und trat an das flache Wasserbecken, das die Tische des Rates von dem Rest der hohen Halle abgrenzte. Er mochte ein Elf sein, dennoch wirkte er plötzlich alt. Alena meinte selbst unter seinen Augen Fältchen entdecken zu können. Er muss den Rat repräsentieren, Alena, ging es ihr durch den Kopf, er ist dir als einziger unbefangen gegenüber.
„Du hat mutwillig unsere Unternehmungen gefährdet, um diesen Jungen zu retten.“
„Ja, das habe ich“, bestätigte Alena die Anklage. „Aber wenn ich erklären darf …“
Loriénes hob eine Hand und Alena hielt inne. Es war nicht die Zeit, sich über Höflichkeiten hinwegzusetzten. „Zuerst legen wir die Fakten dar“, bestimmte Loriénes. Mit einer kreisrunden Bewegung über dem Becken, leuchtete das Wasser gelb wie die Blüten von Sonnenblumen. Dann zeigte sich darin ein Bild; eine Szene, die Alena nur allzu bekannt war. Zu sehen war ein Mann mittleren Alters, der im Begriff war den Mechanismus eines faustgroßen, metallenen Eies zu ergründen. Alena war geschickt worden, um dem Händler das Artefakt abzukaufen, noch bevor dieser Mann es in die Finger bekam.
Noch einmal wanderte Loriénes Hand über dem Wasser durch die Luft und das Bild änderte sich. Es zeigte nun Alena selbst, auf dem Weg zu dem Händler. Doch sie hielt inne, lauschte und schlug einen anderen Weg ein. Zwei dunkle Gassen eilte sie entlang, bis sie ein Kind am Straßenrand liegen sah; einen zusammengekauerten Junge, der einen Fetzen aus Stoff umklammerte. Eine jungen Frau riß unbarmherzig daran und schlug auf ihn ein. Die Bilder waren stumm, doch Alena erinnerte sich an das Kreischen der Frau: Gib‘ das her! Er hat es mir versprochen!, hatte sie geschrien, immer und immer wieder. Alena wusste nicht, was in die Frau gefahren war, doch ohne zu zögern tat sie, befahl der Frau zu gehen. Ihre Magie wirkte, die Frau ging davon. Dann hob Alena das dünne Kind vom Boden auf und brachte es fort, tunlich darauf achtend, dass er den Stofffetzen nicht verlor. Das Wasser trübte sich, die Bilder verschwanden.
Dennoch musste niemand erwähnen, was danach geschehen war: sie hatte den Jungen zu einem Heiler gebracht und das Geld, das für das Artefakt gedacht gewesen war, dem Heiler überlassen. „Rühme dein großes Herz, Alena“, begann Loriénes und schüttelte den Kopf. „Trotzdem hast du wider der Anweisungen gehandelt und die Zeitfolge gefährdet. Das Phönixei ist in die falschen Hände geraten.“
„Ich bin sicher, wir finden einen Weg, es in die richtigen Hände zu geben.“ Doch Alenas neuerlicher Einwand brachte ein ärgerliches Schnauben aus Richtung der Ratstische mit sich. „Ein Wächter darf nicht leichtfertig handeln!“, meldete sich Demihan unwirsch zu Wort.
„Ich bitte die befangenen Ratsmitglieder um Ruhe.“ Lotiénes hob beide Hände in die Höhe, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen und wandte sich wieder an Alena. „Hast du zuvor geprüft, ob wir eine andere Gelegenheit erhalten werden?“
Alena schüttelte den Kopf, sah Loriénes jedoch fest in die Augen. „Nein, aber es gibt immer einen anderen Weg.“
Mit einer Geste forderte Loriénes sie auf, fortzufahren.
„Wenn ich ein Leben schützen kann, werde ich es tun. Unsere Aufgabe besteht nicht nur darin, die Zeitlinie aufrechtzuerhalten, sondern auch zu verbessern. Dazu zählt für mich, ein Kind vor einem Übergriff zu schützen. Das Phönixei hat seine Zeit, es würde erst in einigen Tagen geöffnet werden. Bis dahin entwerfen wir einen anderen Plan, um es zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu schicken.“
Loriénes runzelte die Stirn. „Hast du zuvor überprüft, ob dieses Kind die Zeitlinie nicht zerstören wird?“
„Nein“, gab Alena zu und trat beherzt einen Schritt vor. „Aber jeder Fehler kann ausgeglichen werden. Wenn wir Leid zulassen, anstatt es zu verhindern, sind wir nicht besser, als er.“
Darauf herrschte einen Augenblick Stille im Raum. Eliandji lächelte, Demihan verzog das Gesicht und erhob sich von seinem Platz. „Mit Verlaub, Loriénes, darf ich sprechen?“ Auf Loriénes Nicken stützte er beide Hände auf den Tisch vor sich und fixierte Alena. „Dafür, dass du den bisher einzigen Menschen und Abtrünnigen in unseren Reihen schlecht darstellst, gleicht dein Verhalten den Regeln gegenüber dem seinen erstaunlich. Wie sollen wir wissen, dass du uns nicht auch derartigen Ärger bereiten wirst? Eliandjis Bürgschaft alleine wird deine Fehltritte nicht auffangen.“
„Ich gebe Euch recht: Ihr könnt nicht wissen, ob nicht auch ich irgendwann den falschen Weg beschreite. Aber im Gegensatz zu ihm, gehe ich nicht über Leichen. Der Junge wäre ein annehmbarer Verlust für euch alle gewesen, doch für mich nicht. Er opferte nach eurem Sinnen damals, wen immer ihr für nötig hieltet, ich werde es vermeiden, ein Leben zu opfern, wenn ich es kann.“
„Verluste sind unumgänglich.“ Der kühle Tonfall, den Demihan anschlug, ließ Alena erschauern. „Auch ich musste es letztlich akzeptieren. Er hat es nicht und wurde daran wahnsinnig.“
Alena schüttelte den Kopf. „Es gibt immer einen anderen Weg, der weniger oder kein Leid verursacht. Man muss ihn nur finden.“
Jetzt hob Loriénes beide Hände in die Luft. „Genug. Dies sollte die Rechtfertigung einer Tat werden, nicht ein Moralwettstreit!“
Demihan murmelte etwas unverständliches, nickte jedoch und setzte sich wieder. Loriénes hingegen wandte sich wieder an Alena. „Du sagst, du hast das Für und Wider abgewogen und entschieden, das Leben des Jungen sei wichtiger. Dann sorge dafür, dass der Junge ein Gewinn für uns wird.“ Mehr war nicht zu sagen. Loriénes verabschiedete sich von ihr, Demihan ging ohne ein Wort. Lediglich Eliandji kam noch einmal zu ihr und umarmte sie herzlich. „Ich sehe, dich bedrückt der Gedanke, den Jungen als Werkzeug zu benutzen.“
Alena nickt und sah die Elfe an. „Wie soll ich es mir gegenüber rechtfertigen, den Jungen zwar gerettet zu haben, ihm aber gleichzeitig ein Schicksal aufzuerlegen?“
Eliandji trat an Alena vorbei, ihre Hand ruhte dabei jedoch noch auf ihrer Schulter. „Er wird ein Werkzeug werden, wie auch Sananka und Kyle.“
Zweifelnd drehte sich Alena zu Eliandji um. „Aber es war ihre Entscheidung, uns zu unterstützen. Dieser Junge, Winter, wird diese Entscheidung nicht haben.“
„Nein“, bestätigte Eliandji und schlug die Augen nieder. „zu Anfang nicht. Doch bedenke: Die Wächter der Zeit zwingen niemanden in ihren Dienst. Du wirst eine Lösung finden, da bin ich gewiss.“
Alena griff nach der Hand auf ihrer Schulter und druckte sie dankbar. Dann verabschiedete sich auch Eliandji.

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