„Du musst die neue Laibärztin sein.“
Alaralién sah auf und hätte beinahe zu viele Tropfen einer braunen Suspension in die Schale fallen lassen. Doch sie zuckte nur innerlich zusammen, legte den hölzernen Stab jedoch beiseite und musterte die Frau, die ohne Vorwarnung in das Arbeitszimmer gestürmt war. Ihre dunkle Stimme passte kaum zu ihrem zierlichen Äußeren. Sie war mittleren Alters, aber in ihren schwarzen Haaren zeigte sich noch kein Grau. Dafür war grau die Farbe ihrer Augen, umrandet von einem hellen Blau. Ungerührt von Alaras Anwesenheit wusch sie sich in dem Wasserbecken die Hände. „Ich habe schon gehört, dass du endlich angekommen sein sollst. Hat ja lange genug gewartet, der feine Herr Graf.“ Sie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze und streckte Alaralién eine Hand entgegen. „Nadja“, stellte sie sich vor. „Seit dem Tod des Medikus letzten Winter, bin ich die zuständige Heilerin im Dorf und schau auch hier ab und zu vorbei. Ist ja genug zu tun, seit die Dämonen aus ihren Löchern kriechen.“
Auf ihren musternden Blick musste Alara grinsen. „Bevor du fragst: Ja, ich bin eine Elfe“, kam sie Nadja zuvor, als diese gerade den Mund öffnete.
Diese blinzelte und schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. „Hätte ich mir denken können, dass das alle wissen wollen.“ Dann ging sie zu einem Schrank, nahm einen handlichen Korb heraus und füllte ihn mit Verbänden, frischen Tüchern und ein paar verschlossenen Phiolen. „Tja, dass der Graf gerade dich ausgesucht hat, wundert mich nicht. “
„Ach nein?“
„Eine Elfe ist doch was Besonderes“, versicherte Nadja und streckte sich, um nach einem Tiegel im obersten Fach zu greifen. Alaralién stellte ihre Schale auf einen niedrigen Tisch, trat neben Nadja und reichte ihr den Tiegel. Dafür bekam sie aber lediglich ein Stirnrunzeln. „Hoffentlich hat dein hübsches Köpfchen auch den Verstand, den du als Laibärztin brauchst. Aber ihr Elfen sollt euch ja alle auf die Heilkunst verstehen.“
„Ein weit verbreitetes Gerücht“, versicherte Alara. „Umgibt sich Lord Thrax etwa gerne mit hübschen Frauen?“
Nadja lachte. „Nein, keineswegs. Er hat noch nie einer Frau den Hof gemacht und glaub‘ mir, es gab genug, die versucht haben seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Vielleicht gehört er ja doch zur anderen Seite.“
„Andere Seite?“
„Das sind die Männer, die sich in Männer verlieben.“ Sie schloss die Türen des Schrankes und versuchte dabei ihr Lachen zu unterdrücken. „Nimm es mir nicht übel, ich habe ein loses Mundwerk!“, meinte sie und klemmte sich den Korb bequem zwischen Arm und Hüfte. “Der Graf hat bisher noch an keiner Frau und keinem Mann irgendwelches Interesse gezeigt, nicht mal freundschaftlich. Manchmal glaube ich, er hat was mit seinem Schatten, aber selbst das traue ich ihm nicht zu.“
Alaralién hob fragend eine Augenbraue an. „Seinem Schatten? Ist das noch so eine Redewendung?“
Nadja amüsierte sich offensichtlich über ihr Unwissen. „Oh nein, sein Leibwächter Wyren. Egal, wo Lord Thrax sich aufhält, Wyren ist immer irgendwo in der Nähe. Ihn habe ich auch schon ein paar Mal verarztet, aber den Grafen selbst …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, der ist nie krank. Und verletzt war er auch noch nie. Die Götter allein wissen, wozu er plötzlich einen Leibarzt braucht – oder eine Laibärztin.“ Vielsagend sah sie Alara an und schnalzte mit der Zunge. „Aber genug geplaudert! Ich muss noch Miris Kleinsten sehen und Orlens Fuß.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, strebte sie der Tür zu, wandte sich aber noch einmal zu Alaralién um, bevor sie diese öffnete. „Vielleicht sehen wir uns nachher beim Essen. Würde mich freuen!“
