Das Zimmer war dunkel, als sie eintrat. Das Feuer im Kamin war noch nicht wieder entfacht worden und die kühle Luft im Zimmer ließ Alena frösteln. Sie entzündete eine Lampe auf dem massiven Tisch, auf dem auch ein großer Spiegel ruhte, und ließ sich auf dem Stuhl davor nieder. Seufzend pflückte sie die seidenen Handschuhe von ihren Fingern und legte ihren Schmuck ab. Im Spiegel konnte sie den prunkvoll eingerichteten Raum sehen; Stuck an der Decke und den Wänden, marmorne Verzierungen an den Möbeln, dem große Bett und selbst an den Spangen, die die teuren Vorhänge vor dem Fenster gerafft hielten. Sie wiegten sich im Wind.
Alena hielt inne und legte die Ohrringe beiseite. Das Fenster war geschlossen gewesen, als sie eben eingetreten war. Jetzt strömte die kalte Nachtluft herein und brachte den Geruch feuchter Erde mit sich. Ein dunkler Schatten kauerte zwischen dem Schrank und der Wand neben dem Fenster. Abrupt fuhr Alena hoch und auch der Schatten erhob sich und hob beschwichtigend die Hände. Alena kannte ihn; seine drahtige Figur und die weißblonden Haare, die einen so vollkommenen Kontrast zu seinen dunklen Augen boten. „Winter“, entfuhr es ihr überrascht.
Winter musterte sie. Wie mochte sie in dem Moment auf ihn wirken, in ihrem aufwendigen Ballkleid? Doch sein Gesicht spiegelte weder Abneigung noch Skepsis wieder. Er versicherte sich, dass sie alleine waren, schloss das Fenster und ging zur Tür. Mit einem leisen Klacken drehte er den Schlüssel im Schloss. „Du musst ihr helfen.“
Alena hörte die Forderung in seiner Stimme, noch ehe sie sie in seinen Augen sehen konnte. Wie viel Zeit war für ihn vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten? Weit weniger, als für sie selbst; sie wusste nicht, von wem er sprach. „Wem?“, erkundigte sie sich schweren Herzens.
„Nuora!“, entgegnete Winter nachdrücklich und trat auf sie zu. „Du hast sie nicht vergessen, oder? Bitte, Alena, sie zerbricht daran.“ In seiner Stimme schwang ein Flehen, das sie bei ihm noch nie vernommen hatte. Nicht während der Zeit, in der sie ihm und auch Nuora Aufträge erteilt hatte um die Zeitlinie zu bewahren.
„Was er ihr angetan hat, lässt sie nicht mehr los.“
Alena erinnerte sich. Es war lange her, fast zu lange. „Serjosah.“ Bei ihm hatte sie ihre Menschenkenntnis im Stich gelassen. Einem Mann, sympathisch und strebsam, aber leider auch machthungrig; zu machthungrig. Er hatte alle seine ehemaligen Gefährte gefangen gehalten, zusammen mit Corvey. Doch letzterer hatte es geschafft, zumindest für eine Weile. Alena seufzte. Sie konnte nicht umhin, sich schuldig zu fühlen. „Es liegt nicht an mir, Nuora zu helfen all das zu verarbeiten.“
„Du sollst ihr nicht helfen, damit fertig zu werden. Du musst ihr helfen, es zu vergessen!“
Alena zog die Augenbrauen zusammen und musterte Winter. Er sah ausgemergelt aus, älter. Dennoch hatte sie gerade andere Probleme, eine andere Aufgabe. Wie sollte sie all das jetzt und hier schaffen? Sie konnte das Schloss nicht verlassen, ohne zu Ende zu bringen, was sie hier angefangen hatte. „Winter, ich weiß nicht, wie du mich hier ausfindig gemacht hast“, seufzte Alena und löste die Spangen aus ihren Haaren. „Aber ich fürchte, dass ich ihr nicht werde helfen können. Ich kann sie nicht vergessen lassen, was passiert ist.“
„Doch, das kannst du!“ Winter versuchte die Wut zu unterdrücken. Doch er griff nach ihrem Arm und druckte schmerzhaft fest zu. „Du bist die einzige Beherrscherin, der ich zutraue, in ihre Gedanken einzudringen ohne weiteren Schaden anzurichten.“ Entschlossen biss er die Zähne zusammen, als gedachte er sie nicht mehr loszulassen, bis sie mit ihm mitkam, jetzt sofort. Doch genauso fest war auch ihre Antwort: „Selbst wenn ich ihr damit helfen könnte, Winter, ich werde nicht in ihren Kopf eindringen.“
„Du kannst sie nicht im Stich lassen!“ Sein Griff wurde fester und nur weil sie warnend den Zeigefinger hob, umschlang er nicht auch noch ihren anderen Arm. Es schien, als würde er sich erst jetzt bewusst, dass er ihr wehtat. Sofort ließ er sie los. „Du kannst sie nicht im Stich lassen“, flüsterte er noch einmal.
Alena glättete sich das Kleid und schüttelte den Kopf. „Ich werde sie nicht im Stich lassen, Winter. Aber ich muss hier bleiben.“
„Sie zerbricht daran!“, klagte er, hob unbeholfen die Hände und ließ sie sofort wieder sinken, hin und her gerissen, zwischen Wut, Verzweiflung und Trauer. „Ich fürchte jede Nacht um sie.“
„Was fürchtest du?“
„Sie ist außer sich. Um zu vergessen schluckt sie Wellrens Traumspinner, jeden Tag. Im Rasch spricht sie davon, Serjosah umzubringen, auf die grausemasten Methoden, die ihr einfallen. Und dann die Schreie, jedes Mal dauert es länger.“ Seiner Stimme wohnte ein Zittern inne und Alena sah ihm an, wie sehr es an seinen Kräften zehrte. Die Schreie waren Auswirkung der Droge, Schmerzen, die danach kamen. Einmal hatte Alena sie bereits selbst gehört, vor Jahren oder Jahrzehnten in einem Seelenhaus. Sie waren unerträglich.
„Ich habe versucht, sie davon abzuhalten, es zu nehmen“, fuhr Winter fort und schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe es weggeworfen, habe sie eingesperrt, aber ich kann nicht ohne Pause auf sie achten. Sie hat immer wieder welches aufgetrieben. Mir fällt nichts mehr ein, Alena! Mir!“
Alena wusste, was das bedeutete. Immer war es Winter, der seine tollkühnen Pläne schmiedete, der sich auf etwas einließ, was kein vernünftiger Mensch tun würde und doch hatte er meistens Erfolg gehabt. Wenn ihm nichts mehr einfiel, war die Lage aussichtslos. „Bring sie nach Rothwell“, entschied sie, ohne sich jetzt Gedanken über die Konsequenzen zu machen. „Ich werde sehen, was ich tun kann, doch ich kann nicht gleich kommen. Ich werde jemanden schicken, eine Freundin. Sie wird Nuora helfen können.“
