Schuld (Alena)

Sie lag still im feuchten Gras, die Augen weit aufgerissen und leer. Keine Regung zeugte von Leben, kein Atem, keine Herzschlag.
Yoshek sank neben ihr auf die Knie. Wie konnte diese reglose Ding Roxane sein? Ihre blonden Haare waren schmutzig; schwarz von Schlamm und rot von Blut. Blut klebte auch an ihren Mundwinkeln. Es hatte einen Streifen auf ihrer Wange hinterlassen, färbte ihr blaues Kleid schwarz und breitete sich in einer Pfütze unter ihr aus. Vorsichtig streckte Yoshek eine Hand nach ihr aus, wagte es jedoch nicht, sie zu berühren. Er fürchtete das zu spüren, was er tief in seinem Inneren fühlte: die endlose Leere des Todes.
„Ich konnte sie nicht retten, Yoshek.“
Jemand trat neben ihn. Alena, die alte Freundin seiner Eltern. Ihr Antlitz war makellos. Ihre Lippen zierte ein Hauch rosa, ihre gepflegten roten Haare waren präzise aufgesteckt und der blaue Stein in ihrem silbernen Stirnband funkelte hell. Selbst das Weiß ihres Kleides war bar jeder Trübung. Ganz anders, als dieses zerstörte Wesen zu seinen Füßen. Alena ließ sich neben ihm nieder und legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter.
„Es tut mir Leid“, fuhr sie fort, doch Yoshek glaubte nicht an echtes Mitgefühl. Alena war ihm vom ersten Moment an heuchlerisch erschienen, doch er hatte nicht die Kraft, sie an ihren Lügen zu hindern. „Ich habe es versucht, aber es war schon lange zu spät. Ein gespaltenes Herz lässt sich nicht heilen und in ihrem wog der Irrsinn schwerer, als der klar Verstand.“
„Sie war meine Schwester …“ Yosheks brachte nicht mehr als ein krächzen hervor.
Nun legte Alena auch die andere Hand auf seine Schulter, drehte seinen Oberkörper und zwang ihn sie anzusehen. „Ich weiß, und ich verstehe, wie sehr dein Verlust schmerzt.“
Keine Tränen. Yoshek sah keine Tränen auf ihren blassen Wangen, während sie sich in ihm sammelten; ein kühler Quell salzigen Wassers, der an die Oberfläche drang und seinen Blick plötzlich verschleierte.
„Aber du bist noch am Leben, Yoshek. Kehre nach Hause zurück und lasse all das hinter dir.“
Yoshek kämpfte gegen die Tränen an, wischte sie sich immer wieder aus den Augen. „Wie könnte ich das?“, verlangte er zu wissen. Leere Worte, mehr waren ihre Phrasen nicht. „Wie?! Sie hat immer auf mich aufgepasst, warum konnte ich das nicht für sie tun?“ Seine Schluchzen erstickten den letzten Satz.
„Schhh.“ Alena rückte näher heran und strich ihm in einer tröstenden Geste über den Rücken. „Es war nicht deine Schuld. Niemand hat Schuld, nicht einmal Roxane. Sie wollte …“
„Nein!“, unterbrach Yoshek sie heiser. Was behauptete sie da? Wie konnte niemand Schuld haben? „Es hat immer jemand Schuld.“ Er sah Alena direkt in die Augen, doch er konnte nichts darin lesen. Er sah nur eine steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. War das Unbill? Heftig stieß er sie fort und sprang auf. „Du hast Schuld! Alles hatte begonnen, als du aufgetaucht bist und jetzt sagst du niemand hat Schuld? Du hast beteuert, sie retten zu wollen und hast es nicht getan. Du hast gelogen! Du bist keine Freundin, von niemandem. Du bist dir nur selbst ergeben.“ Langsam, wie glühende Lava, kroch die Wut durch seine Adern. Wut auf Roxane, auf seine Eltern, auf einfach alle; insbesondere auf Alena. Er ballte die Hände zu Fäusten. „Du und deine großen Machenschaften! Bleib fern von uns! Halte dich von mir fern, von meinen Eltern und ganz besonders von Lizzy! Ich will nicht noch eine Schwester verlieren!“
Yoshek wusste, es war nicht mehr, als eine verzweifelte Drohung, doch sie sollte seine Verachtung spüren. Er wollte Alena niemals wieder sehen.

Alena ließ den Jungen mit seiner toten Schwester alleine. Sie fühlte sich leer, Trauer wog in ihrem Herzen und umfasste ihr Gemüt, je weiter sie Yoshek hinter sich ließ. Es tat ihr so unendlich Leid und doch wusste sie: es entstand etwas Stärkeres daraus. Ein stärkeres Band zwischen Bruder und Schwester, als es Yoshek mit Roxane verbunden hatte. Lizzy würde es brauchen.
Trotzdem konnte sie die Vorwürfe nicht abschütteln. War es wirklich ihre Schuld?

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