Morgenfrost (Sananka / Alena)

Das dunkle Blau der Nacht ging am Horizont in das helle Violett des Tages über, als Sananka in den Garten trat. Spielerisch strich der Wind durch die Bäume und pflückte hier und dort Blätter von den Ästen. Eine Flut an gelben und roten Laub bedeckte die ganze Wiese, während die Äste kahl in den Himmel stachen und die Blumen verwelkten. Allein die lila Kokons der Herbstzeitlosen erhoben sich gegen die trübe Jahreszeit – Blumen, die Sananka allein ihrer giftigen Samen und Blütenblätter wegen kannte.
Frierend rieb sie sich über die Arme. Die kühle Luft nahm ihr etwas der Müdigkeit, die sie seit Stunden plagte. Doch erst jetzt konnte sie guten Gewissens schlafen gehen; jetzt, nachdem sie die letzte Aufgabe erledigt hatte und sich die nächsten Tage nur dem Schneiderhandwerk widmen konnte.
„Guten Morgen, Sananka“, riss Alena sie aus den Gedanken. Mit zwei dampfenden Bechern stand sie neben ihr und hielt ihr einen entgegen. „Ella sagte, du wolltest ebenfalls einen Tee?“
Sananka grinst. „Danke.“ Der Becher fühlte sich in ihren klammen Fingern heißer an, als der Tee an ihren Lippen. Doch die Wärme tat gut. Sie ran ihre Kehle herunter und vertrieb den Frost aus ihrem Inneren.
„Du siehst müde aus.“
„Und du zu damenhaft, um mir den Tee zu bringen“, entgegnete Sananka und begegnete Alenas aufmerksamen Blick. Jedes Mal, wenn Alena sie so betrachtete, fürchtete Sananka durchschaut zu werden. Die Magierin beobachtete Menschen sehr genau, merkte sich jedes Wort und analysierte jede kleine Regung. Sananka wusste nicht, wie es ihr bisher gelungen war, nicht entlarvt zu werden. Sie hoffte, der Zeitpunkt würde noch lange auf sich warten lassen. Alena war ihr mehr eine Freundin, als irgendjemand sonst es bisher gewesen war.
Bevor Alena nachhaken konnte seufzte Sananka und setzte ein schiefes Grinsen auf. „Schon gut, ich konnte nicht schlafen und war die ganze Nacht unterwegs.“
„Im Schloss?“ Alena nippte an ihrem Becher und nahm auf einer niedrigen Bank Platz, ließ Sananka aber nicht aus den Augen.
„Ja klar im Schloss.“ Sananka zuckte mit den Schultern. Ob ihr gerade der kalte Wind über den Nacken strichen oder ob die Gänsehaut doch in Alenas Blick begründet lag, wusste Sananka nicht genau und zog sich den Kragen ihrer Jacke etwas enger. „Außer in der Schenke ist im Dorf doch nichts mehr los und in den Wald kriegen mich mitten in der Nacht keine zehn Pferde.“
Alena umfasste ihren Tonbecher mit beiden Händen, als spüre auch sie die frische Morgenluft. Ihr Lächeln war plötzlich bar jeder Grübelei und strahlte wieder ihre übliche Freundlichkeit aus. „Hast du etwas Interessantes entdeckt?“
„Na, wenn du es interessant findest, dass Herzog Gorren schlafwandelt und seine Frau dafür schnarcht, wie ein Ochse, oder dass Irina mich angepöbelt hat, weil ich nicht herumschleichen und lieber schlafen sollte.“ Noch einmal zuckte Sananka mit dem Schultern und nahm einen kräftigen Schluck ihres Tees. „Das Schloss ist so verwinkelt, dass sogar ich mich fast verlaufen hätte.“
„Du findest dich überall schnell zurecht“, warf Alena ein. „Das bewundere ich an dir.“
„Ach, echt?“ Sananka sah die Magierin schräg an. Statt preis zu geben, sie habe einen Scherz gemacht, nickte diese beteuernd.
Da war der Frost wieder; er saß wie ein Knoten in ihrer Brust, breitete sich stetig weiter aus und gefror selbst ihr Blut zu Eis. Sananka schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben und verzog den Mund. „Wenn du meinst, dass es bewundernswert ist, schnell einen Platz zu finden, an dem ich mich verkriechen kann.“ Ohne Rücksicht leerte sie ihren Becher in einem Zug. Die heiße Flüssigkeit brannte in ihrer Kehle und füllte ihren Magen völlig aus. Das Eis vermochte sie Hitze jedoch nicht zu schmelzen. „Ich halte das eher für armselig.“
Verwundert zog Alena die Augenbrauen zusammen. „Und dennoch suchst du einen?“
Sananka verzog den Mund. „Ich kann eben nicht aus meiner Haut.“ Mürrisch starrte sie auf ihren Becher. Der Frost war noch da und kühlte nun auch den Tee in ihrem Magen ab. „Ich bin halt ein Feigling.“ Und das war sogar die Wahrheit und zugleich die beste Tarnung, die sie sich wünschen konnte.
Entschieden schüttelte Alena den Kopf und hob gleichzeitig eine Hand, um den Sitz ihrer hochgesteckten Haare zu prüfen. „Ich halte dich nicht für so feige, wie du glaubst zu sein.“
Sekunden sah Sananka Alena an, suchend nach einem Zeichen der Zweideutigkeit. Doch sie sah nur Alenas Sympathie. „Selbst du kannst dich täuschen“, seufzte Sananka. „Aber lassen wir das. Ich sollte noch etwas Schlaf nachholen, bevor jemand was genäht oder geflickt haben will. Guten Morgen Alena!.“
Ohne noch eine Antwort abzuwarten ging Sananka zurück in die Küche, stellte ihren Becher ab und machte sich auf zu ihrem Zimmern. Der Frost jedoch blieb und mit ihm das Wissen, Alena enttäuschen zu müssen und sie letztlich zu verraten.

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