Schreibtrick

Es ist wunderbar, wieder richtig Zeit zum Lesen zu haben. Ich habe mich endlich an den zweiten Band von Tad Williams „Otherland“ gewagt, nachdem er Ewigkeiten im Schrank stand, ich mich aber wegen meiner schneckenhaften Lesegeschwindigkeit in den letzten Monaten nicht durchringen konnte, ihn anzufangen – wer will schon ein ganzes Jahr mit einem Buch verbringen?
Vor allem habe ich neben der Zeit sogar noch die Konzentration auf kleine Dinge zu achten. So stieß ich auf eine beeindruckende schriftstellerische Finte. Tad Williams hat eine blutige Todesszene vermieden, indem er sie quasi vorwegnahm.

Dazu muss ich etwas weiter ausholen (und Achtung: Spoiler! ;)): Die Hauptpersonen wandern durch verschiedene virtuelle Welten, in denen sie festhängen, und landen unter anderem in einer „Insektenwelt“, in der Insekten zwar Insekten sind, aber die Protagonisten leicht geschrumpft.
Die Todesszene bezog sich auf Wanderarmeisen; in Anbetracht der geringen Größe der Menschen dort, riesige Wanderameisen, doppelt so lang, wie ein Mensch groß. Zunächst hat Tad Williams einige Seiten vorher in einer Beobachtung beschrieben, wie diese Ameisen ihre Beute schlagen. Eine Spinne wurde zerteilt und in kleine Stücke zerlegt, erst Kopf und Gliedmaßen, dann der Rest. Die handlichen Stücke wurden von den Ameisen mit dem wandernden Strom mitgenommen, für spätere Verwertung.
Als es dann soweit war, dass ein Mensch den Ameisen im Weg stand, war mein erster Gedanke: „Oh nein, ich will jetzt keine eklige Szene lesen.“ Mir war klar, was die Ameisen mit dem Menschen tun würden. Und offensichtlich war das von dem Autor genauso gedacht. Der Leser weiß, was passiert; er musste es nicht veranschaulichen. Er beschrieb die Reaktionen der verbliebenen, die zusehen mussten, aber Tad Williams ersparte sich zu beschreiben, wie der Mensch auseinandergenommen wurde.

Eine einfache Finte, aber sehr effektiv. Die größte Schwierigkeit dürfte sein, die vorhergehende Beschreibung so anschaulich zu gestalten, dass weiteres später wirklich nicht mehr erklärt werden muss.
Gerade für das umgehen blutiger Details finde ich das schön, aber sicher kann man diese Methode auch in vielen anderen Bereichen einsetzten 🙂

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