Sturmnacht (Lailah)

Der Sturm zerrte an ihrer schützenden Kapuze und entriss sie ihren Händen. Lailah schob sich in den nächsten Hauseingang und kniff die Augen zusammen. Blätter trieben an ihr vorbei; ein Heulen, Pfeifen und Tosen dröhnte in ihren Ohren. Der Wind bauschte den schweren Wollstoff ihres Mantels, als sei er ein leichter Seidenschal. Erst die große Gestalt Marius‘, die neben ihr erschien und sie gegen den Wind abschirmte, nahm dem Sturmwind seine Gewalt.
Lailah blinzelte ihren Mann erleichtert an. Sie hasste Unwetter und sie hasste es bei solchem Wetter genötigt zu sein, vor die Tür zu gehen.
„Wo müssen wir hin?“, fragte Marius über den Lärm hinweg.
Ja, wo mussten sie hin? Lailah konnte keinen Namen nennen, keine Straße oder auch nur einen Anhaltspunkt. Sie wusste einfach, wohin sie musste.
Vorsichtig lugte sie an Marius vorbei und streckte ihre Hand aus. „Da … da iss‘es. Die Wohnung unter dem Dach.“
Marius folgte ihrem Blick. Er zweifelte ihre Worte nicht an, niemals. Er äußerte keine Zweifel oder versuchte sie von dem abzubringen, was sie vorhatte. Nein, er unterstützte sie in jeder Hinsicht. Schützend legte er einen Arm um Lailahs Schultern und lief mit ihr die Straße hinunter. Geschäfte waren verbarrikadiert, Fensterläden zugenagelt. Alles, um den Sturm davon abzuhalten, einzudringen.
Sie gelangten an eine Tür, auch sie war fest verschlossen. Lailah versuchte sie aufzudrücken, rüttelte daran, doch selbst der Wind hatte mehr Kraft, als sie. „Bitte, öffne die Tür“, wandte sie sich an Marius.
Dieser nickte und stemmte sich mit seiner ganzen Kraft gegen das Holz. Der Rahmen splitterte, die Tür gab nach und kippte nach innen. Lailah stolperte hinein, gefolgt von Marius. Der Sturm tobte weiter, doch die Böen, die er in das Treppenhaus sandte waren nur noch schwache Lüftchen.
Lailah atmete Erleichtert auf und betrachtete die Tür. Sie spürte, wie ihr die Schamesröte in die Wangen stieg. Sie hatte nicht die Tür nicht aus den Angeln reißen wollen. „Das … ähh … hab‘ ich so nich‘ gedacht.“
„Nein?“, fragte Marius sichtlich unschuldig. Doch so war er. Auch nach all den Jahren konnte er noch immer nicht einschätzen, was notwendig war und was nicht. Er versuchte nur ihre Bitten zu erfüllen und sie vor Schrecklichem zu bewahren.
„Das … werden wir bezahlen müssen.“ Lailah seufzte und sah das Treppenhaus hinauf. Die Tür konnte warten, ihr Vorhaben nicht. „Komm!“
Schnell erklommen sie die Treppen, bis sie vor der letzten Tür standen. „Hoffentlich sind wir noch nich‘ zu spät“, seufzte Lailah und klopfte. Niemand öffnete oder gab auch nur zu verstehen, dass sie gehört worden war.
„Der Sturm ist zu laut.“
Lailah zögerte einen Herzschlag, dann nickte sie. „Du hast Recht.“ Im Gegensatz zu den anderen, war diese Tür nicht verschlossen. Sie gab den Blick auf eine merkwürdige Szene frei: Zwei Frauen waren in dem Raum dahinter. Die eine lag am Boden und starrte mit leeren Augen zur Decke. Wegen ihr war Lailah hier her gekommen, aber sie war zu spät. Die zweite Frau hatte ihr Werk bereits getan, auch wenn Lailah nicht sie erwartet hatte. „Sananka“, entfuhr es ihr überrascht.
Die Überraschung beruhte auf Gegenseitigkeit. Sananka sah sie einen Moment verwundert an, bevor sie beteuernd beide Hände hob. „Ich war das nicht, ehrlich!“
Allein der Versuch sich herauszureden ließ in Lailah das alte Misstrauen und die Wut aufwallen, die sie seit Jahren mit sich trug. „Ich hätt‘s mir denken können, dass du‘s bist. Dass ich wegen dir hier her kommen musste!“
„Lailah, bitte, ich …“, versuchte Sananka dagegenzuhalten. Aber Lailah schnitt ihr das Wort ab: „Hör‘ auf! Was immer du sagen willst, du kannst doch gar nich‘ mehr als eh nur lügen, du Verräterin!“
„Aber ich mach das nicht …“
„Sei still!“, schrie Lailah sie an und ballte die Hände zu Fäusten.
Sananka öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder, ohne eine weitere Lüge loszuwerden. Ihre schmalen Lippen pressten sich aufeinander und sie ließ die Hände sinken.
Lailah betrachtete die Leiche und rang die pure Verzweiflung nieder, die sie überfiel. Allein Marius‘ Hand auf ihrer Schulter verhinderte, dass ihre Knie nachgaben. Stattdessen deutete sie auf die Tür, ohne Sananka anzusehen. „Verschwinde, bevor Marius die Stadtgarde alarmiert!“
Unendlich lange schien Sananka zu zögern, bevor sie der Aufforderung folgeleistete und schweigend den Raum verließ. Lailah starrte noch immer die Leiche an. Flecken zeigten sich an deren Hals und Lailah hatte das Gefühl, als schnüre ihr der Pure Anblick selbst die Kehle zu. Das war zu viel. Die Tote zu finden, mit der sie gerechnet hatte, war eine Sache. Doch im selben Moment deren Mörderin zu begegnen, eine alte Bekannte, ließen sie endgültig einknicken. Marius fing sie auf, als sie zusammensackte.

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