Wiedersehen (Vyncent / Liliana)

»Du hast nichts zu erzählen? Gar nichts?«
Vyncent hielt inne, mitten auf dem überfüllten Marktplatz, runzelte die Stirn und musterte sie skeptisch.
Doch Liliana grinste wölfisch und hob die Schultern. »Nichts.«
Sie wollte weiter gehen, doch er hielt sie am Arm zurück. »Weswegen?«, wollte er wissen. »Wie kann jemand, der das ganze Land bereist hat, jemand so …« Bemüht, keines der Worte zu benutzten, die ihm sofort in den Sinn kamen, um Liliana zu beschreiben, geriet er ins Stocken. Faszinierend, liebreizend, geheimnisvoll; all das hätte sie als Kompliment aufgefasst und er hütete sich, welche zu machen. »Aufgeschlossenes wie du, nichts zu erzählen haben?«
»Ich erzähle nicht gerne«, antwortete sie knapp und sah sich nach ihrem Hund um.
Mae war einige Schritte weiter gegangen und wartete mit angehobenen Ohren. Vielleicht auf einen Befehl Lilianas, vielleicht auch einfach darauf, dass sie weiter gingen. Woher sollte Vyncent wissen, was im Kopf eines Hundes vorging? Er schaffte es ja nicht einmal Liliana zu durchschauen.
Er seufzte und wagte einen zweiten Vorstoß, irgendetwas über sie zu erfahren. »Was nicht heißt, du hättest nichts zu erzählen. Das heißt nur, du willst nichts erzählen.«
Jetzt musterte sie ihn und auf ihren Lippen erschien abermals dieses eigentümliche Grinsen. Vyncent wusste nicht, ob das Prickeln in seinem Nacken von der stechenden Kälte in ihrem eisblauen Auge herrührte oder von dem warmen Amüsement in ihrem braunen. Ein Knurren drang an seine Ohren und ließ in ihm abermals die Assoziation zu einem Wolf aufwallen: Lilianas schwarze Haare, ihre helle Haut und ihre verschiedenfarbige Augen. Das Prickeln wandelte sich in einen Schauer, der ihm den Rücken hinunterjagte, als Liliana den Blick anwandte.
Erst jetzt begriff Vyncent, er hatte sich das Knurren nicht eingebildet.
»Mae!«, rief Liliana und setzte plötzlich dem Hund nach.
Vyncent schaute ihr zuerst verwirrt hinterher, ehe er eilig folgte. Das Bellen des Hundes war weithin zu hören und kaum war Vyncent zwischen zwei Markständen in eine Gasse getreten, sah er Mae mit geducktem Kopf, angelegten Ohren und hoch erhobenem Schwanz. Ihr Nackenfell sträubte sich; ihr Knurren und ihre gebleckten Zähnen verhießen nichts Gutes. Direkt neben dem Hund war auch Liliana zum Stehen gekommen, die Hände zu Fäusten geballt und den Blick starr auf einen Mann gerichtet.
»Du!« Das einzelne Wort war nicht mehr als ein Grollen in ihrer Kehle.
Der Angesprochene zuckte zusammen und fuhr herum. »Liliana …«, japste er überrascht. Keine Sekunde dauerte es, bis er die Fassung wieder errang und plötzlich ein schmeichelndes Lächeln zur Schau trug. »Liliana! Wie wunderbar dich wohlauf zu sehen! Ich dachte du wärst …« Das Ende des Satzes ließ er bedeutungsschwanger unausgesprochen, breitete die Hände aus und trat wohlwollend auf Liliana zu. Doch mehr als einen Schritt tat er nicht und hielt sofort inne, als Mae knurrte.
»Das ich noch lebe, habe ich nicht dir zu verdanken!«, herrschte Liliana ihn an. Vyncent konnte förmlich sehen, wie sie mit ihrem Innersten rang, das Monster nicht herauszulassen, dass diesen Mann in Fetzten reißen würde.
»Liliana, es tut mir Leid. Ich kann …«
»Es tut dir Leid?!«, unterbrach sie ihn. Ihre Stimme wurde dunkler, als spreche sie nicht mehr durch ihre eigene Kehle. »Nichts tut dir Leid! Du hast mich reingelegt und damit gerechnet, dass der Mob mich erledigt!« Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an.
Vyncent sprang, noch bevor sie es konnte, schlang beide Arme um Liliana und hielt sie fest. Sie zappelte und kreischte, fauchte Worte, von denen Vyncent nicht einmal gedacht hatte, sie kenne sie.
»Verschwindet!«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, doch der Fremde brauchte keine Aufforderung mehr, das Weite zu suchen.
Liliana strampelte und wollte sich einem Armen entwinden, bevor sie sich mit ihrem vollen Gewicht plötzlich nach hinten warf. Der Aufprall trieb Vyncent die Luft aus den Lungen. Er rang nach Atem, unfähig Liliana weiter festzuhalten. Maes aufgeregtes Bellen übertönte Lilianas Fluchen, doch weder Hund, noch deren Herrin folgten dem Mann.
Als er sich hustend aufraffte, kniete Liliana mit allen vieren auf dem Boden. Mae sprang winselnd im Kreis um sie herum, lief unschlüssig in Richtung des Entflohenen, hielt inne und kehrte zurück.
»Liliana«, keuchte Vyncent und holte tief Luft. Der Hustenreiz verflog nach einigen Herzschlägen. »Liliana?«
Sie atmete gehetzt und versuchte sich zu beruhigen; das Monster niederzuringen, das ausbrechen wollte. Vyncent war sich nicht sicher, ob sie es schaffte. Innerlich bereitete er sich darauf vor, einen Werwolf einfangen zu müssen und beobachtete, wie sich Mae fiepend auf den Boden nieder ließ und zu Liliana kroch. Sie vergrub Hände und Gesicht im Fell der Hündein und druckte sie an sich. Es war ein seltsamer Anblick. Liliana umschlang Mae um bei ihr Trost zu suchen. Der Hund war ihr Mittel, das Monster niederzuringen.
Maes Winselnd verstummte und Liliana seufzte erleichtert, als sie den Hund wieder los ließ. »Mir geht es gut«, flüsterte sie, sah Vyncent dabei jedoch nicht an.
Er stand auf, kratzt sich am Kopf und murmelte: »Schon gut.« Dann streckte er ihr eine Hand entgegen, um ihr auf zu helfen.
Ungläubig betrachtete Liliana zuerst seine Hand, dann ihn. Vyncent hätte viel darum gegeben, zu erfahren, was in ihrem Kopf vorging. Sie nahm sein Angebot an und ließ sich aufhelfen.
»Ich würde meinen«, meint Vyncent auffordernd. »Du hast mir doch etwas zu erzählen.«

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