Nächtliche Musik (Sananka / Alena)

Leise Töne drangen zu Sananka, schoben sich langsam in ihr Bewusstsein; eine unbekannte Melodie, die sie aus der Konzentration riss. Sie kroch durch das Fenster herein, zusammen mit dem kühlen Wind. Der Seidenstoff, mit dem Sananka arbeitete, bauschte sich, schien in die Melodie mit einzufallen und zerrte an den frischen Nähten des Gewandes.
Sananka verzog die schmalen Lippen. Ein Klavier … ? Sie konnte das Instrument nicht einordnen, viel zu wenig hatte sie sich mit solchen Dingen beschäftigt. Flüchtig fixierte sie den Stoff mit der Nadel und ging zum Fenster. Die Melodie wurde klarer, hin und her geworfen durch jeden Windstoß. Irgendwo über ihr musste der Musiker sitzen, vermutlich in den Gästezimmern der adeligen Herrschaften. Es musste ein Klavier sein – oder etwas Ähnliches. Aber wer spielte es? In den Zimmern über ihr waren derzeit nur wenige Menschen und eine Elfe untergebracht. Kyle musizierte bestimmt nicht. Sananak wüsste es, hätte er irgendwann damit angefangen. Der behäbige Baron und seine Gattin waren die unmusikalischsten Kunstbanausen, die Sananka jemals erlebt hatte. Blieb nur Alena. Sie mochte graziös und elegant tanzen, sie mochte ein gutes Verständnis für Musik haben, aber noch nie hatte Sananka irgendjemanden erwähnen hören, sie spiele Klavier, geschweige denn es selbst vernommen. Doch sonst blieb niemand übrig. Oder spielten Elfen ebenfalls solche Instrumente?
Von Neugierde geplagt blickte Sananka zurück in ihren Arbeitsraum. Die Kerzen, die ihn erhellten flackerten und warfen tiefe Schatten in die Ecken. Sananka zog sich auf das Fensterbrett hinauf. Die Nacht war dunkel; niemand würde sie entdecken und niemand würde sie hier vermissen.
Stück um Stück fanden ihre Finger und Füße halt, sie kletterte von einem schmalen Vorsprung auf einen Wasserspeier und zog sich auf einen Giebel hinauf, der ein breites Fenster überdachte. In der Hocke, wie eine Katze mit beiden Händen als zusätzliche Stütze vor sich, lauschte sie. Der pfeifende Wind riss die Musik auseinander, teilte sie in Fetzen und verstreute sie in alle Richtungen. Aber Sananka vermochte den Ursprung auszumachen: Ein Balkon. Die Tür stand offen, doch es drang kein Licht hervor, nur die Musik.
Ein beherzter Sprung half, um das Geländer des Balkons zu erreichen. Sananka zog sich behände hoch, bis sie mit den Füßen halt gefunden hatte und lugte über das Geländer hinweg. Leise kletterte sie hinüber und schlich geduckt zur Tür. Der Raum war fast leer. Der Wind ließ weiße Laken flattern, die die wenigen verbliebenen Möbel bedeckten und von Staub bewahren sollten. Zu Füßen eines großen Flügels lag der weiße Stoff am Boden, beleuchtet von einem schwachen, magischen Licht in zartem Rosa. Alenas Licht. Die Magierin fuhr mit den Fingern über die Tasten, als spiele sie täglich. Sie war eins mit der Musik, versunken in ein unergründliches Gedankengut, das ihre dunklen Augen einen entrückten Ausdruck verliehen, den Sananka bei ihr noch nie gesehen hatte. Das weiße Kleid, ihre offenen Haare und ihre helle Haut; sie hätte eine geisterhafte Erscheinung sein können, wüsste Sananka nicht genau, wen sie vor sich hatte.
Sananka runzelte die Stirn. Alena musizierte wie in Trance. Und das in einem Raum, der verschlossen sein sollte; in einem privaten Raum der verstorbenen Königin, den König Boreas in pfleglicher Erinnerung hielt. Jeder wusste, diese Räume sollten unzugänglich bleiben. Selbst die Dienerschaft musste eine Erlaubnis erbitten, die Räume zu säubern. Was also hatte Alena hier zu suchen?
Plötzlich hielt die Magierin inne und Sananka zuckte zurück, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Hatte Alena sie entdeckt?
Auf dem Boden neben sich sah Sananka den Widerschein des magischen Lichts, er bewegte sich, wurde größer. Sie schluckte einen Fluch herunter und glitt leise zur Seite, über das Geländer hinüber. Wieder presste sie sich gegen die Wand, versuchte sich am Balkon hängend so weit unter diesen zu schieben, dass ein flüchtiger Blick nicht ausreichen würde, um sie zu entdecken. Sie hörte Schritte, die hinaus traten, die verharrten, Sekunden vielleicht sogar Minuten lang. Sananka konnte es nicht sagen.
Erst, als sie das Knarren der Tür vernahm atmete sie auf. Vorsichtig versicherte sie sich, dass Alena wirklich entschwunden war. Die Tür war verschlossen und durch das Glas war kein Lichtschein zu sehen. Die Musik war verstummt, nur noch der Wind flötete ungelenk sein Lied. Alena hatte den Raum verlassen.
Geraume Zeit stand Sananka auf dem Balkon. Das Verhalten der Magierin gab ihr Rätsel auf, seit Wochen schon. Was trieb sie voran? Woran arbeitete sie? Was ging ihr durch den Kopf? Oder war sie seit dem Verlust ihres Kindes und ihres Liebsten einfach verrückt geworden? Sananka seufzte. Sie würde es herausfinden müssen.

Hinterlasse einen Kommentar