Alexis beobachtete sie aus seinem Versteck; er hockte dicht hinter der nur angelehnten Tür zum Speisesaal und spähte durch einen Spalt. Jasminia öffnete die Speisekammer, nahm Brot, Käse, Hartwurst und ein paar Möhren und legte alles auf ein bereitgelegtes Tuch. Etwa die gleiche Menge hatte sie am Vortag bereits entwendet und Alexis wusste nicht, wie oft sie das bereits getan hatte.
Verstohlen verschwand Jasminia durch die Küchentür nach draußen und Alexis verließ sein Versteck. Er folgte ihr bedächtig. Jasminia überquerte den Hof und lief auf die Straße. Sie sah sich nichteinmal um, als fürchte sie nicht, entdeckt zu werden. Sie eilte aus dem Villenviertel durch die Gassen, hin zum Hafen und den dortigen Wohnbaracken, völlig unbedarft, als sie sie sich der Gefahr nicht bewusst, der sie sich aussetze. Sicherlich war sie das auch nicht.
Jasminia verschwand in einem schmutzigen Hinterhof. Als Alexis ihr folgte, sah er sie keinen Meter entfernt stehen, umringt von Kindern jeglichen Alters. Ruckartig zuckte Alexis zurück und lugte um die Ecke. Sie verteilte das Essen, schnitt Brot, Wurst und Käse und schälte die Mören. Niemand drängelte sich vor und Jasminia achtete darauf, jedem Kind etwas zu Essen zu geben, den Kleinen zuerst.
Alexis runzelte die Stirn. Sie versorgte Straßenkinder mit Essen … Das war ein seltsamer Anblick, doch wundern konnte er sich darüber nicht. Das schüchternen Mädchen kümmerte sich gerne um andere, versuchte immer das richtige zu finden, um jemandem eine Freude zu machen und war zu naiv, um zu begreifen, dass manche Dinge nicht geändert werden konnten; Dinge, wie diese hier: hungernde Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden oder deren Eltern bereits tot waren und die es nicht in eines der wenigen Waisenhäuser geschafft hatten. Vermutlich wusste sie nicht, wie gefährlich es hier alleine für sie war.
Das letzte Stück Käse fand den Weg in die Hände eines Jungen, der vielleicht sechs oder sieben Jahre zählte. Er sah Jasminia mit großen grauen Augen an und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem schmutzigen Gesicht ab. Alexis beobachtete erstaunt, wie er Jasminia umarmte, als habe sie ihm die größte Freude gemacht, die er sich vorstellen konnte.
Unbehelligt von den Kindern faltete Jasminia das Tuch ordentlich zusammen und erhob sich. Sie sah Alexis nicht, als sie aus dem Hof trat und er zögerte, auf sich aufmerksam zu machen. Einerseits musste er Baienvy davon in Kenntnis setzen, was ihr naiver Schützling trieb. Andererseits bezweifelte er, dass die Herzogin etwas dagegen hatte. Er konnte ihre Worte förmlich hören: Tut sie das?, würde die erste höhnische Nachfrage lauten und ein Befehl an ihn folgen: Dann hilf ihr und pass auf sie auf!.
Alexis seufzte. „Minchen!“
Jasminia blieb verwirrt stehen und sah sich nach ihm um. Ihre Wangen röteten sich abrupt, sie fühlte sich ertappt und blinzelte. „Oh, Alexis … was machst du hier?“
„Das sollte ich dich fragen“, entgegnete er und versuchte ernst zu sein. Doch es wollte ihm nicht gelingen; er musste grinsen, als sie beschämt den Blick senkte. „Minchen, das hätte ich nicht von dir erwartet“, tadelte er spielerisch.
Ihre Finger nestelten nervös an dem Tuch und sie begann sich zu rechtfertigen: „Die Kinder tun mir aber so leid! Ich wollte doch nur, dass sie was zu essen haben.“ Jetzt sah sie ihn flehend an und hob bittend die Hände. „Alexis, bitte sage es ihr nicht! Sie wird das nicht verstehen, bestimmt nicht.“
Alexis schürzte die Lippen und wiegte überlegend den Kopf. „Na schön, ich sag’s ihr nicht. Aber ich werde in Zukunft mitkommen, nicht, dass dir noch was passiert.“
„Wirklich?“, versicherte sich Jasminia erstaunt und blinzelte. Erst nach Sekunden hellte sich ihr Gesicht auf und sie fiel ihm dankbar um den Hals. „Oh, danke, Alexis!“; Sie freute sich genauso, wie der Junge, dem sie soeben noch das letzte Stück Käse gegeben hatte und Alexis seufzte innerlich. Jasminia lebte in einer ganz anderen Welt; einer Welt aus Gut und Böse, in der man gegen vieles mit einfachen Dingen noch etwas tun konnte. In ihrer Welt gab es kein Grau, keine Gefahren, die von Kindern oder Bettlern ausgingen, die sie des Essens wegen überfallen konnten. Sie sah nichteinmal den guten Menschen, der in der Herzogin steckte, nur weil Baienvy unfreundlich war.
In gewisser Hinsicht war Jasminia zu beneiden: Sie würde niemals ihren Glauben an das Gute verlieren.

Ein Kommentar zu „Milde Gabe (Alexis)“